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28. August 2010, von Michael Schöfer
Raus aus den alten Denkschablonen


Andreas Kreimeyer ist Mitglied im Vorstand der BASF und leitet beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) den Ausschuss für Forschung, Wissenschaft und Bildung.

"Auch wenn Deutschland sparen müsse, bei Investitionen für die Zukunft dürfe man keine Abstriche machen, mahnt Kreimeyer. 'Denn erstklassige Forschung führt zu mehr Wirtschaftsleistung und damit auch zu mehr Einnahmen für den Staat. Deutschland braucht außerdem eine zeitgemäße Innovationskultur.' (...) Entscheidend sei, dass die Gesellschaft neuen Technologien offen und neugierig gegenüber stehe. Politik und Gesellschaft müssten erkennen, dass Forschung für den Industriestandort Deutschland lebensnotwendig sei. 'Hier muss dringend ein Umdenken einsetzen.' (...) Umso wichtiger sei es, Kinder und Jugendliche frühzeitig für Technik und Naturwissenschaften zu begeistern." [1]

So weit, so gut. Es ist wohl unstreitig, dass Deutschland, ein Staat ohne nennenswerte eigene Rohstoffbasis, vor allem von den Ideen in den Köpfen seiner Bürger lebt. Das hat uns in der Weltwirtschaft eine Spitzenstellung eingebracht. Und genauso unstreitig ist die Erkenntnis, dass wir uns ein Nachlassen im Bereich Forschung und Entwicklung gar nicht leisten können, selbst wenn es hierzulande bei der Umsetzung der Ideen in reale Produkte zuweilen hakt. Doch auch das kann verbessert werden.

Die Asiaten holen in der Forschung auf, sagt Kreimeyer. "Wenn man sich das anschaut, wird einem schwindelig." Aus China käme eine Welle von Patenten, die "nicht nur Masse, sondern auch Klasse" seien. [2] Zweifellos darf man China keinesfalls unterschätzen. Wer die Geschichte des asiatischen Riesen kennt, ist beeindruckt von den Leistungen, die er früher erbracht hat. Die Chinesen erfanden unter anderem den Kompass (4. Jh. v. Chr.), das Papier (ca. 2. Jh. v. Chr.), das Porzellan (620 n. Chr.), den Buchdruck (erste Hälfte des 8. Jh. n. Chr.), das Schießpulver (850 n. Chr.) und die Kanone (um 1250 n. Chr.). Sie konnten bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. mit ihren Hochöfen Gusseisen erzeugen und produzierten Ende des 11. Jahrhunderts 125.000 Tonnen Roheisen (Großbritannien erreichte dieses Quantum erst 700 Jahre später). Schon im 5. Jahrhundert n. Chr. entwickelten sie ein Verfahren zur Stahlherstellung, mit dem das Siemens-Martin-Verfahren von 1864 vorweggenommen wurde. Im 12. Jahrhundert nutzten sie mit Wasserkraft betriebene Maschinen zum Spinnen von Hanf (rund 500 Jahre vor der britischen Textilindustrie). [3] China war also in vielen Bereichen führend. Und das sogar mit großem Abstand.

Genauso wie die Chinesen ihren damaligen Spitzenplatz verspielten (das Reich der Mitte beschloss kurz vor Beginn der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, sich von der Außenwelt abzuschotten, es genügte sich selbst und verpasste dadurch den Anschluss), könnten sie ihn jetzt zurückerobern. Ein Naturgesetz, das den Chinesen unausweichlich ein niedrigeres intellektuelles Niveau zuweist als uns Europäern, gibt es nicht. Für diejenigen, die sich aus Arroganz oder Ignoranz auf ihren Lorbeeren ausruhen und die eigene Vorherrschaft für unabänderlich halten, wird es dereinst sicherlich ein böses Erwachen geben, obgleich wiederum manche Wachstumsprognosen in Bezug auf China aller Voraussicht nach unrealistisch sind. [4] Auch in China wird letztlich nur mit Wasser gekocht.

Was fordert Andreas Kreimeyer? Sie werden es kaum glauben: Steuererleichterungen! Ich bin maßlos enttäuscht. Die BASF ist ein traditionell exportorientiertes Unternehmen und wurde von der Wirtschaftskrise schwer getroffen. Gleichwohl hat der Ludwigshafener Chemiegigant 2009 ein Ergebnis vor Steuern in Höhe von 3,079 Mrd. Euro erwirtschaftet. Nach Abzug von Steuern auf Einkommen und Ertrag blieb immerhin ein Jahresüberschuss von 1,655 Mrd. hängen. Der Jahresüberschuss der letzten zehn Jahre betrug satte 27,7 Mrd. Euro. [5] Braucht die BASF, deren Ergebnis vor Steuern im ersten Halbjahr 2010 auf 3,746 Mrd. Euro wuchs (ein Plus von 160,3 Prozent) und damit in den ersten beiden Quartalen des laufenden Geschäftsjahres schon mehr erwirtschaftete als im gesamten Jahr zuvor, wirklich Steuererleichterungen? [6]

BASF Konzernzahlen (in Mrd. Euro)
Jahr Ergebnis vor Ertragsteuern Jahresüberschuss
2000 2,827 1,282
2001 6,730 5,826
2002 2,641 1,599
2003 2,168 0,976
2004 4,347 2,133
2005 5,926 3,168
2006 6,527 3,466
2007 6,935 4,325
2008 5,976 3,305
2009 3,079 1,655
Summe 2000-2009 47,156 27,735

Gewiss, Steuererleichterungen sind für jeden schön, nicht bloß für Unternehmen. Aber ist es nicht ein Widerspruch in sich, einerseits mehr gesellschaftliche Investitionen in Bildung zu fordern, andererseits jedoch im gleichen Atemzug Steuererleichterungen für gut verdienende Unternehmen einzufordern? Wie will man denn Kinder und Jugendliche frühzeitig für Technik und Naturwissenschaften begeistern? Mit maroden Schulen, die der Staat angesichts leerer Haushaltskassen verkommen lassen muss, gelingt das kaum. Eine "zeitgemäße Innovationskultur" beschränkt sich doch nicht nur auf die Unternehmen selbst, sie ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Bei Investitionen für die Zukunft dürfe man keine Abstriche machen, sagt Kreimeyer. Dennoch führen die von ihm geforderten Steuererleichterungen zwangsläufig genau dazu - zu Abstrichen bei der Ausbildung in Schulen und Universitäten. Und woher will Kreimeyer dann hochqualifizierte Mitarbeiter nehmen?

Andreas Kreimeyer verlangt ein Umdenken. Ich fürchte allerdings, er selbst bleibt alten Denkschablonen verhaftet, denn die Eindimensionalität von Steuererleichterungen à la FDP müsste eigentlich inzwischen von jedem erkannt werden. Das ist bedauerlich, weil uns das Problem, das Kreimeyer anspricht, zugegebenermaßen unter den Nägeln brennt. Man muss nicht Thilo Sarrazin heißen, um den Mangel an Bildung in unserer Gesellschaft zu beklagen. Freilich ist das Problem mit weniger Geld für Bildungseinrichtungen und zwangsläufig mehr Kinderarmut (der Staat spart bekanntlich stets bei den Schwächsten) kaum zu lösen. Doch das ist die unausweichliche Folge von Kreimeyers Forderung. Weniger Steuerbelastung für Unternehmen bedeutet automatisch weniger Geld für die Staatskasse. Vernetztes Denken scheint in den Vorstandsetagen nach wie vor Mangelware zu sein.

Eine allein auf das Unternehmenswohl fokussierte Diskussion greift daher viel zu kurz. Raus aus den alten Denkschablonen bedeutet, sich auch über Chancengleichheit Gedanken zu machen. Allem anderweitigen Gerede zum Trotz, ist "Deutschland eine geschlossene Gesellschaft. Beruflicher Erfolg wird über Generationen vererbt. Gerade auf den Chefetagen gilt das U-Bahn-Prinzip: Wer drin ist, hält die Tür zu", schrieb der Spiegel schon vor Jahren. "Die Gesellschaft selektiert gnadenlos, und das beginnt schon in der Grundschule. 'Selbst bei guten Noten gehen nur 38 Prozent der Unterschichtkinder auf ein Gymnasium', sagt der Sozialwissenschaftler Rainer Geißler. (...) Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks von 2004 vergleicht, was aus hundert Kindern weniger gebildeter Eltern wird: 64 gehen gar nicht erst auf weiterführende Schulen und fallen damit für eine Karriere in Berufen mit hohem Einkommen und Sozialprestige weitgehend aus. Von den verbleibenden 36 machen 25 trotz Abi einen Bogen um die Unis - da waren's nur noch elf. (...) Der Soziologe Michael Hartmann von der Universität Darmstadt hat die Karrieren von 6500 potenziellen Aufsteigern mit Doktortitel ausgewertet. Die soziale Herkunft entscheidet, 'zum Manager wird man geboren', weiß der Wissenschaftler: Kandidaten mit großbürgerlichem Hintergrund haben fünfmal bessere Aussichten auf eine Eliteposition in der Wirtschaft - Tendenz steigend." [7] Daran hat sich seitdem nicht viel geändert, noch immer entscheidet weniger die Begabung, sondern hauptsächlich die soziale Herkunft über den gesellschaftlichen Aufstieg.

Wenn Kreimeyer gesagt hätte, die BASF sei bereit, mehr Steuern zu zahlen, erwarte dafür jedoch vom Staat zielgerichtete Investitionen in Bildung (insbesondere für sozial benachteiligte, aber trotzdem nicht weniger begabte Schichten), wäre das endlich mal etwas Neues gewesen. Doch so radikal umdenken wollte Kreimeyer offenbar nicht. Die 2,3 Mio. Euro, die die Chemische Industrie jährlich investiert, um den Chemieunterricht an den Schulen attraktiver zu machen, ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein und würde durch Steuererleichterungen bestimmt zunichte gemacht. Was soll das - ein paar Millionen geben und gleichzeitig ein Vielfaches an Steuererleichterungen einstreichen? Unter solchen Umständen wäre die "Schulpartnerschaft Chemie" reine Augenwischerei. Eine Alibiveranstaltung, nicht mehr. Es bleibt der Eindruck zurück, dass die plakativ vorgetragene Forderung nach einer "zeitgemäßen Innovationskultur" lediglich als Mittel dient, um die Unternehmensgewinne abermals zu steigern.

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[1] VCI, Presseinformation vom 26. August 2010, PDF-Datei mit 25 kb
[2] Süddeutsche vom 27.08.2010
[3] David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen, Berlin 2002, und Konrad Seitz, China, München 2006
[4] siehe Fragwürdige Wachstumsprognosen vom 31.01.2010
[5] BASF, Zehnjahresübersicht
[6] BASF, Gewinn- und Verlustrechnung, Zwischenbericht 1. Halbjahr 2010
[7] SpOn vom 30.06.2004