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21. Februar 2012, von Michael Schöfer
Warum nicht über Steuern finanzieren?


Es ist immer die gleiche Begründung: Weil die Menschen in Europa/Deutschland älter werden und außerdem zu wenig Kinder bekommen, muss man sie bestrafen. So will etwa die EU-Kommission künftig das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln, dadurch könnte hierzulande die Regelaltersgrenze auf über 70 Jahre ansteigen. [1] Altersrente erst mit 72? Nicht mehr völlig undenkbar. Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt fordert bereits die Rente ab 75. [2] Junge Abgeordnete der Union wollen Kinderlose mit einer Sondersteuer belasten, sie nennen das euphemistisch "Demografie-Reserve". Damit soll das ihrer Meinung nach bestehende "Ungleichgewicht des Generationenvertrags" geglättet werden. "Kinderlose zahlen die volle Abgabe, bei einem Kind reduziert sich die Abgabe auf die Hälfte, ab dem zweiten Kind ist keine Zahlung zu entrichten." [3] Letztlich geht es bei all diesen Vorschlägen nur um Kostensenkungen. Wohlgemerkt: Kostensenkungen zu Gunsten der Unternehmen, Arbeitnehmer müssten dagegen weitere Belastungen hinnehmen. Faktisch war schon die rot-grüne Rentenreform eine versteckte Rentenkürzung zu Lasten der abhängig Beschäftigten, während die Arbeitgeber entlastet wurden.

Dass sich der demographische Aufbau der Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten ändert, ist unbestreitbar. Doch anstatt sich dieser zwangsläufigen Änderung mit Hilfe einer anderen Finanzierungsgrundlage anzupassen, hält man krampfhaft an der seit Bismarcks Zeiten üblichen Finanzierung über die Beiträge der abhängig Beschäftigten fest. Dabei haben Letztere mit zwei für sie äußerst negativen Entwicklungen zu kämpfen: Erstens sinken die Reallöhne seit Jahrzehnten und liegen heute deutlich unter dem Niveau von 1991 (dem Jahr nach der Wiedervereinigung). [4] Zweitens sinkt dadurch auch der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen und hat inzwischen wieder das Niveau der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erreicht. [5]



Nettorealverdienste (in Euro/pro Jahr)*
1991
18.557 €
1992
19.155
1993 19.191
1994 18.702
1995 18.470
1996 18.465
1997 17.889
1998 17.869
1999 18.078
2000 18.264
2001 18.491
2002 18.456
2003 18.320
2004 18.391
2005 18.155
2006 17.829
2007 17.622
2008 17.395
2009 17.248
2010 17.666
2011 17.650
*Nettorealverdienste = Bruttobezüge abzüglich der Lohnsteuer, der tatsächlich bezahlten Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und dem Preisindex für Lebenshaltungskosten



Volkseinkommensquoten

Lohnquote (unbereinigt)
Unternehmens- und Vermögenseinkommenquote (Betriebsüberschuss/Selbständigeneinkommen)
1991
70,8 %
26,7 %
1992
71,9 % 26,3 %
1993 72,5 % 26,6 %
1994 71,4 % 27,9 %
1995 71,1 % 27,5 %
1996 70,7 % 27,4 %
1997 69,9 % 28,1 %
1998 70 % 28,2 %
1999 71,1 % 28 %
2000 72,1 % 27,6 %
2001 71,8 % 27,9 %
2002 71,6 % 27,4 %
2003 71 % 28,3 %
2004 67,9 % 27,7 %
2005 66,4 % 29,3 %
2006 63,9 % 30 %
2007 63,2 % 29,9 %
2008 64,9 % 31 %
2009 68,2 % 29,9 %
2010 66,5 % 29,1 %
*Lohnquote = Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit in % des Volkseinkommens

Das bedeutet: Ein kleiner werdender Teil des Volkseinkommens (die Arbeitnehmereinkünfte) muss in zunehmendem Maße das Sozialsystem schultern, während Vermögens- und Unternehmenseinkommen immer weniger zu dessen Finanzierung herangezogen werden. Änderungen in der Struktur der Steuern, die hier nicht näher erörtert werden sollen (z.B. die Verschiebung von den direkten zu den indirekten Steuern), tun ihr Übriges. Wenn sich dann noch der demographische Aufbau der Bevölkerung erheblich ändert, ist logischerweise das Fortbestehen des bisherigen Systems gefährdet. Die Antwort der Politik beschränkt sich bislang auf ständige Leistungskürzungen, da andere Lösungswege strikt abgelehnt werden.

Es wäre natürlich wünschenswert, wenn die Arbeitnehmerentgelte wieder steigen würden. Sie müssten sogar jahrelang überproportional wachsen, was derzeit allerdings unwahrscheinlich ist. Davon abgesehen könnte aber auch eine andere Finanzierungsgrundlage die notwendige Entlastung bringen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb die wachsenden Unternehmens- und Vermögenseinkommen nicht stärker zur Finanzierung der Sozialleistungen herangezogen werden sollen. Und so etwas geht eben am besten über eine stärkere Besteuerung. Dass Kapitaleinkünfte oberhalb des Freibetrags inklusive Soli-Zuschlag und Kirchensteuer momentan mit knapp 28 Prozent besteuert werden, ist vollkommen unverständlich. Arbeitnehmer können davon nur träumen, denn die von ihnen zu entrichtende Belastung (Lohnsteuer, Sozialabgaben) liegt wesentlich höher. Dieser Zustand ist ungerecht.

Anstatt also den Arbeitnehmern die Last der demographischen Änderung allein aufzubürden, wäre vielmehr eine Änderung der Finanzierungsgrundlage unseres Sozialsystems wünschenswert. Die Regelaltersgrenze immer weiter zu erhöhen ist schlicht und ergreifend absurd, denn wer kann sich 75-Jährige wirklich noch als aktive Arbeitnehmer vorstellen. Kaum jemand. Sondersteuern für Kinderlose lösen das Problem genauso wenig, bestimmte Lebensentwürfe zu bestrafen ist eindeutig der falsche Weg. Bedauerlicherweise ist die Steuerfinanzierung unseres Sozialsystems nach und nach wieder aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden, obgleich die Probleme, die aus der demographischen Änderung resultieren, demnächst spürbar zunehmen.

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[1] EU-Kommission vom 16.02.2012
[2] Der Standard vom 08.02.2012
[3] Die Welt-Online vom 16.02.2012
[4] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Arbeitsmarktstatistiken, Statistisches Taschenbuch 2011, Tabelle 1.15
[5] Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Arbeitsmarktstatistiken, Statistisches Taschenbuch 2011, Tabelle 1.9