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03. Januar 2015, von Michael Schöfer
Reine Phrasendrescherei


"Heute rufen manche montags wieder 'Wir sind das Volk'. Aber tatsächlich meinen Sie: Ihr gehört nicht dazu - wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion. Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen! Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen!" Für diese Passage in ihrer Neujahrsansprache 2014/2015 erntete Bundeskanzlerin Angela Merkel - im Inland wie im Ausland - nahezu ungeteilten Zuspruch. "Angela Merkel findet in ihrer Neujahrsansprache deutliche Worte zu Pegida. (...) Nicht schlecht, Frau Bundeskanzlerin!", kommentierte selbst die linksalternative taz. [1] Negative Reaktionen kamen erwartungsgemäß von der Alternative für Deutschland (AfD).

Der Umgang mit PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) ist jedoch auch im Regierungslager nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. "Wenn Tausende Menschen auf die Straße gingen, müsse man sich um 'das, was diese Menschen an Ängsten im Herzen tragen, kümmern'. Die Demonstranten seien 'weiß Gott nicht alles Nazis'. Ähnlich äußerte sich Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig (SPD): 'Da ist auch viel verängstigtes Bürgertum dabei', sagte Albig der dpa. 'Diesen Menschen müssen wir ihre Angst nehmen und dürfen sie nicht pauschal verurteilen.'" [2] Natürlich muss man die Menschen ernst nehmen, das gilt selbstverständlich für alle, aber mit einer etwas anderen Zielrichtung. Hätte man Hitler vor 1933 ernst genommen, wäre Deutschland wahrscheinlich viel erspart geblieben, denn dem sind damals ebenfalls viele verängstigte Kleinbürger nachgerannt.

PEGIDA ist erkennbar fremdenfeindlich, da versuchen einige die m.E. irrationalen Ängste der Menschen (die angeblich drohende Islamisierung Deutschlands) zu instrumentalisieren. Aber auch wenn ich der Meinung bin, dass diese Ängste jeder rationalen Grundlage entbehren [3], muss man der Politik dennoch zumindest eines attestieren: Sie handelt nach Regeln, die mit Demokratie und Werten wie Ehrlichkeit nur schwer zu vereinbaren sind. Viele Bürger bekommen dadurch zu Recht den Eindruck, die Regierenden würden die Meinung des Volkes missachten und die Wählerinnen und Wähler bewusst hintergehen. Der Ruf aus den Parteien, für die Menschen Verständnis zu zeigen, ist daher leider reine Phrasendrescherei. Dort, wo es wirklich drauf ankommt, handeln nämlich die verantwortlichen Politiker ganz anders, denn häufig geben sie Partikularinteressen den Vorrang vor dem Gemeinwohl.

Nicht ohne Grund geht die Wahlbeteiligung peu à peu zurück: Bei der Landtagswahl in Sachsen (31.08.2014) gingen nur noch 49,1 Prozent der Wahlberechtigten wählen, bei der Landtagswahl in Thüringen (14.09.2014) waren es 52,7 Prozent und bei der Landtagswahl in Brandenburg (ebenfalls am 14.09.2014) gerade mal 47,9 Prozent. Wenn sich nicht einmal mehr die Hälfte der Bürger an Wahlen beteiligt, droht die Demokratie Schaden zu nehmen, sie schlittert in eine schwere Legitimationskrise. Das Gleiche passiert in den Parteien: Die SPD hatte 1990 noch 943.402 Mitglieder, heute sind es lediglich 461.537 (- 51,1 %), die CDU schrumpfte von 789.609 auf 459.878 Mitglieder (- 41,8 %). [4] Volksparteien auf dem absteigenden Ast. Die kleinen Parteien, CSU 147.000 Mitglieder (0,20 % d. dt. Bev.), Linke 62.614 (0,08 %) und Grüne 61.369 (0,08 %), können das natürlich nicht kompensieren. Wie repräsentativ ist eine Demokratie, wenn 73,8 Mio. Deutsche im Wesentlichen nur noch von 0,63 Prozent (SPD) bzw. 0,62 Prozent (CDU) vertreten werden? Parteilose sind ja bei Wahlen faktisch chancenlos. Insofern ist PEGIDA vielleicht nur das Symptom einer viel tiefer gehenden Misere unserer Gesellschaft.

Die Menschen kommen sich oft reichlich - Verzeihung - verarscht vor, fühlen sich für dumm verkauft. CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement), das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada, ist hierfür das beste Beispiel. Seit dem 10.06.2009 hat die Europäische Kommission den rund 1.500 Seiten umfassenden Vertrag mit Kanada ausgehandelt. Hinter verschlossenen Türen, denn der Vertragstext wurde offiziell erst am 26.09.2014 veröffentlicht. Keine Angst, hieß es stets, nach der Veröffentlichung könne man ja über alles reden, dafür bleibe genügend Zeit, schließlich müsse das Freihandelsabkommen von jedem einzelnen der 28 Mitgliedstaaten ratifiziert werden. In Deutschland ist hierfür der Beschluss des Bundestages und des Bundesrates notwendig, was erfahrungsgemäß mindestens zwei Jahre dauere. [5] Eine Beruhigungspille folgte der anderen: "Ganz wichtig ist: der Text tritt ja noch nicht in Kraft. Sondern jetzt beginnt das Ratifizierungsverfahren. (...) Da haben wir ausreichend Zeit, mit den Bürgern, mit Verbraucherschutzorganisationen, mit der Industrie, mit Gewerkschaften, mit allen Interessierten darüber zu diskutieren", beschwichtigte etwa MdEP Daniel Caspary (CDU) die Gemüter. [6] Da sei noch nichts in trockenen Tüchern und auch nichts in Stein gemeißelt. SPD-Chef und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bezeichnete die im Abkommen vorgesehenen außergerichtlichen Schiedsstellen als inakzeptabel, es dürfe keine demokratiewidrige Paralleljustiz geben, die umstrittenen Schutzklauseln für Konzerne müssten daher aus dem Abkommen gestrichen werden.

Ätsch, ätsch, nun sind wir schlauer, CETA ist nämlich doch in trockenen Tüchern. Diskussionen sind vollkommen zwecklos, denn das Ergebnis steht bereits fest. "Der eigentliche Text des Abkommens sei fertig verhandelt. Im Rahmen von 'juristischem Feinschliff' könne es lediglich 'geringfügige Klarstellungen' geben", meint EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström. Auch Gabriel hat sich mittlerweile als Papiertiger entpuppt. "Den Investorenschutz bei CETA komplett herauszunehmen, ist keine echte Option", lautet nunmehr seine Position. [7] "Wenn der Rest Europas dieses Abkommen will, (...) dann wird Deutschland dem auch zustimmen. Das geht gar nicht anders", warf er im Bundestag den konsternierten CETA-Kritikern (zu denen er vor kurzem noch selbst gehörte) an den Kopf. Es seien keine substanziellen Änderungen mehr möglich. [8] Klingt verdammt nach Basta-Politik. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Da wird jahrelang im Geheimen ein Abkommen ausgehandelt, das allerdings nach der Veröffentlichung gar nicht mehr zu ändern ist. Wo bleibt da bitteschön die Beteiligung des Bürgers? Die wird ausgehebelt. Und wie darf man den Vorgang demokratietheoretisch einordnen? Sogar den Bundestagsabgeordneten wird das Vertragswerk nach dem Motto "Friss, Vogel, oder stirb!" hingeworfen. Entweder zustimmen oder ablehnen, Punktum, aber keine Änderungen mehr. Eine äußerst merkwürdige Auffassung von Demokratie. Republik kommt von res publica (das ist lateinisch und heißt wörtlich übersetzt: öffentliche Sache). In welchem Staat leben wir, wenn wichtige Vorgänge der Öffentlichkeit entzogen sind?

Doch damit nicht genug: Auch das Freihandelsabkommen der EU mit den USA, das Transatlantic Trade and Investment Partnership oder kurz TTIP, wird nach dem gleichen Muster gestrickt: Verhandlungen im Geheimen, Einflussmöglichkeiten der Bürger völlig ungewiss. Hier streuen die Verantwortlichen den Bürgern ebenfalls Sand in die Augen. CETA sei keine Blaupause für TTIP, beteuern sie treuherzig. Nein, nein, natürlich nicht. "Dient das CETA als 'Blaupause' für das TTIP", fragten Bundestagsabgeordnete der Linken Ende 2013 die Regierung, die antwortete Anfang 2014 unmissverständlich mit einem prägnanten "Nein". [9] Ätsch, ätsch, ertönt es erneut: Der bis Ende Oktober 2014 zuständige EU-Handelskommissar Karel De Gucht erklärte CETA nämlich genauso unmissverständlich zur Vorlage für TTIP. "Es ist geradezu eine Blaupause für die Gespräche mit den Vereinigten Staaten." [10] Und die CDU-Bundestagsabgeordnete Elisabeth-Winkelmeier-Becker schreibt, das CETA-Abkommen der EU mit Kanada könne durchaus als Blaupause für TTIP dienen. [11] Da hätte sie vorher besser mal mit ihrer Bundesregierung gesprochen, denn die verbreitet bis dato unverdrossen, CETA sei KEINE Blaupause für TTIP. [12] Wenigstens offiziell.

Bittere Erkenntnis: Da spielt irgendjemand mit gezinkten Karten. Volksnah ausgedrückt: Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Angeblich "erwägt" die EU-Kommission bei TTIP den Verzicht auf die dubiosen Schiedsgerichte. "Als Reaktion auf Kritik am Freihandelsabkommen legt ein internes EU-Papier nahe, den Investorenschutz zu streichen." [13] Kann man dem wirklich trauen? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass man mit gezielt gestreuten Indiskretionen, auf die sich am Ende niemand berufen kann, die Öffentlichkeit einzulullen versucht. Wie oben gesehen sind nicht einmal offizielle Statements von Politikern glaubhaft. Zum Schluss deklariert man das Ganze als Arbeitspapier von Subalternen, das nie die Leitungsebene erreicht hat und dort auch keine Zustimmung gefunden hätte. Diese Tricks kennen wir inzwischen zur Genüge.

Doch damit immer noch nicht genug: Auch TiSA (Trade in Services Agreement, dt. Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) wird hinter verschlossenen Türen ausgekungelt. Und vieles soll dabei kurioserweise lange Zeit geheim bleiben. "Die Geheimhaltungsstufe für das Entwurfsdokument ist so festgelegt, dass es nicht nur für die Zeit der Verhandlungen (...), sondern auch noch für fünf Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens geheim bleiben sollte. Auch wenn die Tisa-Verhandlungen nicht zensiert werden, erfahren sie doch in unseren Medien eine Marginalisierung und Heimlichtuerei, die in eklatantem Widerspruch zur welthistorischen Bedeutung des Abkommens steht: Sollte es in Kraft treten, wird dies globale Auswirkungen haben. Denn dieses Abkommen ist so etwas wie ein vertragliches Rückgrat für die Umstrukturierung des Weltmarkts. Egal wer in Zukunft Wahlen gewinnt, egal was Gerichte künftig entscheiden - kommende Regierungen werden an Tisa gebunden sein." [14] Die Politik betreibe ihre Selbstabschaffung und überlasse das Feld den globalen Märkten. O-Ton Angela Merkel: "Ich bin für Bürgerbeteiligung. Ich bin für Transparenz." [15] Offenkundig reine Lippenbekenntnisse, die Wahrheit sieht anders aus.

Besonders heikel bei TiSA: "In Zukunft sollen Konzerne auch mit der öffentlichen Daseinsvorsorge - also mit Bildung, Gesundheit und Wasser Kasse machen dürfen. Was einmal privatisiert ist, darf dann nie mehr öffentlich organisiert werden - egal ob Wasserversorgung, öffentlicher Nahverkehr oder Stadtwerke. Neue Maßnahmen zur Marktregulierung, etwa zur Vermeidung neuer Finanzkrisen, werden verboten. Auch Regeln für die Weitergabe oder Speicherung unserer Daten wären passé. Damit droht die Demokratie außer Dienst gestellt zu werden", warnen die Aktivisten von Campact. [16] Angela Merkels "marktkonforme Demokratie". Doch was ist daran demokratisch? Die Gesellschaft wäre dann bloß noch marktkonform. Wir sind darauf angewiesen, falsche Entscheidungen revidieren zu können. Ein Beispiel: 1996 hat Großbritannien British Rail, die staatliche Eisenbahngesellschaft, privatisiert. Ein totales Desaster, nach einer Reihe von spektakulären Unfällen mit zahlreichen Toten und Verletzten [17], die auf fehlende Zugsicherungssysteme und mangelhafte Wartung der Infrastruktur zurückzuführen waren, ist das Schienennetz seit dem 03.10.2002 wieder in staatlicher Hand. Wenn TiSA Privatisierungen tatsächlich irreversibel macht, muss man die keineswegs übertriebene Frage stellen: Wie viele Tote nehmen die Verantwortlichen für TiSA in Kauf?

Die Bürgerinnen und Bürger, in der Demokratie bekanntlich der eigentliche Souverän, sind zu Recht frustriert, wenn sich ihnen geradezu der Eindruck aufdrängt, ständig angelogen zu werden und auf wichtige Entscheidungen wenig Einfluss zu haben. Frust braucht und sucht sich ein Ventil, PEGIDA und AfD sind zwar als Problemlösung ungeeignet, reiten aber momentan genau auf dieser Welle mit. Und angesichts des Erstarkens rechtsextremer/rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa sollte man das keinesfalls unterschätzen. Mit anderen Worten: Ernst nehmen. Aber nicht indem man denen inhaltlich nachrennt, sondern indem man die Politik demokratischer gestaltet.

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[1] taz vom 01.01.2015
[2] Deutschlandfunk vom 20.12.2014
[3] siehe Gradmesser ist die Anerkennung unserer Verfassungsgrundsätze vom 19.12.2014
[4] Freie Universität Berlin, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland, Version 2014, Word-Datei mit 3,5 MB und FAZ.Net vom 24.12.2014
[5] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Häufig gestellte Fragen zum EU-Kanada-Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA), Seite 2, PDF-Datei mit 89 kb
[6] Deutschlandfunk vom 26.09.2014
[7] taz vom 10.11.2014
[8] Spiegel-Online vom 27.11.2014
[9] Bundestagsdrucksache 18/351 vom 28.01.2014, Frage Nr. 23, PDF-Datei mit 310 kb
[10] FAZ.Net vom 25.09.2014
[11] Website von Elisabeth-Winkelmeier-Becker, Neuigkeiten-Berlin vom 28.11.2014
[12] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Häufig gestellte Fragen zum EU-Kanada-Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA), Seite 4, PDF-Datei mit 89 kb
[13] Die Zeit-Online vom 23.10.2014
[14] Die Zeit-Online vom 09.10.2014
[15] Focus-Online vom 15.11.2010
[16] Hier-Lübeck.de vom 28.12.2014
[17] u.a. 19.09.1997 in Southall: 7 Tote und 139 Verletzte, 05.10.1999 in Ladbroke Grove: 31 Tote und 523 Verletzte, 17.10.2000 in Hatfield: 4 Tote und über 100 Verletzte, 10.05.2002 in Potters Bar: 7 Tote und 76 Verletzte