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12. Juni 2017, von Michael Schöfer
Koalitionen sind nie Selbstzweck


"Wagenknecht brüskiert Schulz", lautet die Schlagzeile der Süddeutschen. "Die Linke lähmt sich selbst", titelt tagesschau.de. "Ein Häuflein Sektierer", meint gar Zeit-Online. Man kann sich, wie übrigens bei jeder anderen Partei, natürlich auch bei der Linken über diverse Programmpunkte aufregen. Aber schießen die abfälligen Kommentare nicht ein bisschen übers Ziel hinaus? Zugegeben, eine Distanzierung von Putin wäre besser gewesen, denn was haben die Verhältnisse in Russland mit Demokratie und Menschenrechte zu tun? Nichts! Aber wenn es um die Koalitionsfrage geht, werden bei der Linken schon pure Selbstverständlichkeiten kritisiert. Das Sein prägt das Bewusstsein. Vielleicht haben sich gutbezahlte Journalisten schon zu weit von der Krankenschwester und ihren Alltagssorgen entfernt.

Brüskiert Sahra Wagenknecht wirklich Martin Schulz, wenn sie feststellt: "Rot-Rot-Grün ist kein Selbstzweck"? Ja was den sonst? Koalitionen sind nie Selbstzweck! Und wenn Wagenknecht mit Blick auf die SPD hinzufügt, "wer an Niedriglöhnen, Rentenkürzungen und Hartz IV nichts ändern will, der soll dann bitte auch aufhören, von sozialer Gerechtigkeit zu reden", liegt sie doch im Grunde goldrichtig. Der Schulz-Hype ist ja gerade deshalb schon zu Ende, weil die SPD als Partei unglaubwürdig ist. Dass die Linke der SPD in dieser Beziehung nicht nacheifert, ist verständlich. Der Schulz-Hype hat gezeigt, dass die Wählerinnen und Wähler durchaus bedarf für eine gerechtere Politik sehen, aber nicht auf substanzlose Wahlslogans hereinfallen. Und warum sollte sich die Linke an einer Regierung beteiligen, die keinen Politikwechsel einleitet? Dann könnte man ihr ja vorwerfen, es ginge ihr nur um Pöstchen. Wie der Politikwechsel konkret aussieht, steht auf einem anderen Blatt und ist üblicherweise Verhandlungssache.

Ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent bei einem Jahreseinkommen von 70.000 Euro ist ebenfalls kein Aufreger. 53 Prozent - das verlangte der Staat auch unter Adenauer. In der Regierungszeit von Helmut Schmidt und Helmut Kohl wurden sogar 56 Prozent verlangt. Es ist bezeichnend für den Zustand unseres Landes, wie viele sich nun darüber aufregen. 53 Prozent sind kein Weltuntergang. Okay, man kann sich darüber streiten, ob eine Millionärssteuer von 75 Prozent gerecht ist, sollte allerdings bedenken, dass in den USA der Spitzensteuersatz erst 1964 von 90 (!) auf 70 Prozent gesenkt wurde. Die fünfziger und sechziger Jahre waren dort jedoch für die Mittelschicht das goldene Zeitalter, später gab es zwar drastische Steuersenkungen, aber es begann auch die Erosion der Mittelschicht.

Die Linke verschrecke SPD und Grüne mit ihrer außenpolitischen Unzuverlässigkeit, heißt es, weil die Linke Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt. Doch sie verschreckt die SPD mit Forderungen, die die SPD früher selbst vertreten hat. Jedenfalls was die Auslandseinsätze angeht. "Die SPD lehnt eine Ausweitung des Verteidigungsauftrages der NATO auf Regionen außerhalb des Vetragsgebietes ab." Das stand auf Seite 11 des SPD-Wahlprogramms von 1980. Und der SPD-Kanzlerkandidat hörte damals auf den Namen Helmut Schmidt. Die Auflösung der NATO? Nur heute ein Alleinstellungsmerkmal der Linken, denn das haben die Grünen ebenfalls gefordert. Im Jahr 1980. In ihrem Wahlprogramm. Nachzulesen auf Seite 8. Lang, lang ist's her. Aber die Grünen sind ja inzwischen regierungsfähig geworden. Andere sagen, sie haben sich angepasst, denn sie vertreten heute das, wogegen sie einst antraten.