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27. Dezember 2019, von Michael Schöfer
Ein unfairer Vorschlag


Es wäre hilfreich, wenn aus der Union endlich einmal Vorschläge zur Reform des Wahlrechts kämen, die NICHT hauptsächlich die Union bevorteilen. Darüber, dass im Bundestag zu viele Abgeordnete sitzen, sind sich wohl alle einig. Darüber, wie dem begegnet werden soll, gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. "Der Deutsche Bundestag besteht vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen aus 598 Abgeordneten", steht in § 1 Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes. § 6 des Bundeswahlgesetzes schreibt aber zugleich vor, dass Überhangmandate durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in den Wahlkreisen mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Die Zweitstimme ist bekanntlich für die prozentuale Verteilung der Bundestagsmandate ausschlaggebend. Durch Ausgleichsmandate wird sichergestellt, dass das Verhältnis der Parteien im Bundestag repräsentativ für den Wählerwillen ist. In einem Sieben-Parteien-Parlament (CDU, SPD, AfD, FDP, Linke, Grüne, CSU) kommt es aber fast unausweichlich zu der kritisierten Aufblähung des Bundestages. Obgleich das Wahlgesetz eigentlich bloß 598 Abgeordnete vorsieht, sitzen momentan 709 Abgeordnete im Berliner Reichstagsgebäude.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat dazu schon vor längerer Zeit einen Vorschlag gemacht: "Der sieht vor, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 270 zu verringern, um so zu weniger Direktmandaten zu kommen. Die Regelgröße will Schäuble mit 598 Mandaten halten. Gleichzeitig sollen allerdings bis zu 15 Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben, erst wenn deren Zahl höher ist, kämen zusätzliche Ausgleichssitze hinzu." [1] Ein durchsichtiges Manöver, schließlich hat die Union bei der letzten Bundestagswahl 231 von insgesamt 299 Direktmandaten gewonnen (CDU 185, CSU 46). In Zeiten knapper Mehrheitsverhältnisse würde Schäubles Vorschlag faktisch einen festgeschriebenen Vorteil für seine Partei bedeuten. Inakzeptabel, denn es könnte sich eine Regierungskoalition bilden, die bei den Stimmanteilen keine Mehrheit hätte, aber durch den Verzicht der Opposition auf 15 Ausgleichsmandate (entspricht immerhin 2,5 Prozent der 598 Mandate) dennoch über eine parlamentarische Mehrheit verfügt. Der Frust der Wähler wäre vorprogrammiert, und man würde auf diese Weise den Wutbürgern weitere Munition frei Haus liefern.

Nun kommt aus den Reihen der CDU/CSU Bundestagsfraktion erneut ein Vorschlag zur Reform des Wahlrechts. Aber leider wieder einer, der der Union unlautere Vorteile verschaffen soll. "Der CDU/CSU-Vorschlag sieht vor, dass künftig 299 Parlamentarier direkt über die Erststimme nach dem Mehrheitswahlrecht bestimmt werden sollen und weitere 299 Abgeordnete über die Zweitstimme nach Verhältniswahlrecht." [2] Das ist das sogenannte "Grabensystem", wie es derzeit etwa in Japan praktiziert wird. [3] Beim Grabensystem (wie durch einen Graben getrennt) werden die Direktmandate in den 299 Wahlkreisen wie bisher nach dem Prinzip der Mehrheitswahl vergeben (the winner takes all), die anderen 299 Mandate nach dem Prinzip der Verhältniswahl. Der Unterschied zum heute gültigen Wahlrecht: Die Direktmandate werden nicht mehr mit dem Zweitstimmenergebnis für die Landeslisten der Parteien verrechnet. Doch das Grabensystem hat einen entscheidenden Nachteil: es ist nicht repräsentativ.

Spielen wir die Bundestagswahl 2017 einmal nach dem vorgeschlagenen System durch: Die CDU hat bei der Wahl 185 Direktmandate erobert, die SPD 59, die CSU 46, die Linke 5, die AfD 3 und die Grünen 1 = insgesamt 299 Mandate.

Würde man die übrigen 299 Mandate proportional nach dem Zweitstimmenergebnis verteilen, bekäme die CDU weitere 84 Mandate hinzu, die SPD 65, die AfD 40, die FDP 34, die Linke 29, die Grünen 28 und die CSU 19. [4]

Alles in allem wäre dann die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag wie folgt ausgefallen: CDU 269, SPD 124, CSU 65, AfD 43, FDP 34, Linke 34, Grüne 29.

Das Grabensystem hat zwar in der Tat den Vorteil, kein aufgeblähtes Parlament mehr hervorzubringen, denn die Anzahl von 598 Mandaten wird nicht überschritten, es verfälscht freilich den Wählerwillen. Und das ziemlich krass, die Union (CDU/CSU) hätte nämlich mit 334 Mandaten die absolute Mehrheit bekommen und könnte allein regieren. Der unlautere Vorteil für die Union ist evident.


Wahlergebnis Bundestagswahl 2017
(Verteilung der Mandate)
Vorschlag Grabensystem
(Verteilung der Mandate)
CDU/CSU 246 334
SPD 153 124
AfD 94* 43
FDP 80 34
Linke 69 34
Grüne 67 29

709 598
*inklusive der inzwischen erfolgten Fraktionsaustritte





Der Vorschlag aus den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist leicht durchschaubar und soll - wie gehabt - ausschließlich der Union Vorteile verschaffen (denn alle anderen Parteien würden Mandate einbüßen). Dabei gibt es ein einfaches Mittel, um die Anzahl der Bundestagsmandate wie gesetzlich vorgeschrieben auf 598 zu begrenzen und gleichzeitig eine repräsentative Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zu garantieren: man muss dazu bloß die Wahlkreise abschaffen. Es gibt dann pro Wähler nur noch eine einzige Stimme, die für das Verhältnis unter den Parteien den Ausschlag gibt. Das Wahlrecht wäre nach einer Abschaffung der Wahlkreise an Klarheit kaum zu überbieten, es gäbe weder Überhang- noch Ausgleichsmandate. Sich jahrelang zu bemühen, um letztlich doch an der Quadratur des Kreises zu scheitern, erübrigt sich dadurch.

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[1] Der Tagesspiegel vom 04.04.2019
[2] Deutschlandfunk vom 27.12.2019
[3] siehe Shinzō Abe hätte keine Mehrheit mehr vom 25.10.2017
[4] Wahlinfo.de, Mandaterechner, Berechnung der Mandate nach d'Hondt