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14. Juli 2006, von Michael Schöfer
Never ending story: Krieg in Nahost


Man stelle sich vor, was hierzulande los wäre, wenn aus einem Nachbarland Deutschlands seit Jahren Raketen auf deutsche Dörfer und Städte abgeschossen würden. Man stelle sich weiterhin vor, was hierzulande los wäre, wenn es außerdem ständig Selbstmordanschläge gäbe, die dort ihren Ursprung hätten. Vor allem, wenn die politische Führung dieses Nachbarlandes entweder nicht willens oder nicht fähig wäre, diese Angriffe zu unterbinden. Genau das ist heute die Situation Israels. Im Vergleich dazu war der "deutsche Herbst", so nannte man früher den Höhepunkt des RAF-Terrorismus (1977), harmlos. Damals wurden viele kritische Geister in die Nähe des Terrorismus gerückt, obgleich sie ihm keineswegs nahestanden. Kopfab-Parolen hatten Hochkonjunktur, besonders an den Stammtischen. Ein bißchen hysterisch ging es seinerzeit schon zu.

Man stelle sich vor, was hierzulande los wäre, wenn ein Nachbarland Deutschlands seit Jahrzehnten das Bundesland Bayern besetzt hielte und dort massiv Siedlungen gründen würde. Man stelle sich weiterhin vor, was hierzulande los wäre, wenn dieses Nachbarland darüber hinaus religiös motivierte Besitzansprüche auf Bayern geltend machen würde und kein Ende der Besatzung absehbar wäre. Vor allem, wenn dieses Nachbarland militärisch total überlegen wäre und die Völkergemeinschaft die völkerrechtswidrige Besatzung faktisch akzeptiert hätte. Genau das ist heute die Situation der Palästinenser. Im Vergleich dazu war die Okkupation Ostdeutschlands durch die Sowjetunion, die zur Gründung der DDR und zur Berliner Mauer führte, harmlos. Damals wurde zu Recht auf den Unrechtscharakter des DDR-Regimes hingewiesen und Freiheit für die Menschen in Ostdeutschland gefordert.

Zugegeben, man soll historische Analogien, vor allem ihre speziellen Ursachen, nicht überstrapazieren. Gleichwohl kann man erahnen, in welcher Gesellschaft wir heute leben würden, wenn der Nahost-Konflikt auf die Situation Deutschlands übertragbar wäre. Von daher kann man den gegenseitigen Haß und die verfahrene Lage in etwa nachvollziehen. Was insbesondere verzweifeln läßt, ist die scheinbare Ausweglosigkeit des Konflikts und die Sackgasse, in die sich die Konfliktparteien manövriert haben.

Es ist verdammt schwer, aus der Ferne gutgemeinte Ratschläge zu geben. Klar ist m.E., daß die illegale Besatzung der Palästinensergebiete durch Israel beendet werden muß. Das Land gehört den Palästinensern, und sie müssen dort in Freiheit leben. Andererseits ist ebenso klar, daß Israel ein Recht darauf hat, in Frieden zu leben. Die Existenz Israels steht nicht zur Disposition. Doch wie soll man das alles erreichen? Die Ratlosigkeit der Völkergemeinschaft ist ja mit Händen zu greifen. Wird der Konflikt womöglich eine "never ending story", bei der es kein "happy end" gibt? Das wäre fatal, denn schon allein die fortschreitende Entwicklung der Waffentechnik macht jede weitere Eskalation brandgefährlich. Nicht auszudenken, wenn etwa der Iran Atomwaffen hätte, die Israel erreichen könnten. In diesem Fall droht ein Atomkrieg mit globalen Auswirkungen (politisch, ökonomisch und ökologisch).

Aber auch ohne Atomwaffen wird die Situation immer brisanter. Erstmals sollen konventionelle Raketen eine israelische Großstadt erreicht haben, nach Pressemeldungen wurde die Hafenstadt Haifa getroffen. Die Lunte am Pulverfaß brennt lichterloh, die Region steht vielleicht am Vorabend zu einem größeren Krieg. Appelle der Mäßigung scheinen kaum etwas auszurichten, da die Radikalen den Ton angeben.

Findet man in letzter Minute noch einen Kompromiß? Es sieht gegenwärtig nicht danach aus. Jetzt rächt sich die jahrelange Passivität der Bush-Administration, denn in der Vergangenheit wären nur die USA in der Lage gewesen, einen politischen Befreiungsschlag zu erzwingen. Kontraproduktiv ist natürlich auch das desaströse Konfliktmanagement gegenüber dem islamischen Terrorismus. Als Vermittler haben sich die USA dadurch längst selbst ins Abseits gestellt. Aus und vorbei? Man muß es befürchten. Jedenfalls bis auf weiteres.

Worauf kann man hoffen? Ich weiß es nicht. Die Fehler der letzten Jahrzehnte potenzieren sich. Zwar könnte die Vernunft noch siegen, aber bekommen die Vernünftigen überhaupt eine reelle Chance? An der Suche nach einem Ausweg aus der Gewaltspirale müßten alle mitarbeiten, doch genau daran hapert es. Viel zu viele haben ein Interesse an der aktuellen Verschärfung, viel zu viele Irrationalismen kommen jetzt an die Oberfläche. Es ist zum Verzweifeln.