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21. Januar 2010, von Michael Schöfer
Das scharfe Schwert der Revolution


Viele rennen ja ein Leben lang Gut und Geld hinterher, bloß um am Ende zu merken, dass es viel wichtigere Dinge gibt. Zeit zum Beispiel. Insbesondere wenn Menschen plötzlich ernsthaft erkranken, wächst in ihnen die bittere Erkenntnis, wertvolle Zeit mit nutzlosem Zeug vergeudet zu haben. Leider ist es dann oft zu spät, die Jahre sind unwiederbringlich dahin. Wir vermissen die Zeit in der Regel erst, wenn wir sie am dringendsten gebrauchen könnten. Nun sind wir also bereits nach ein paar Sätzen an so Unverdaulichem wie dem Sinn des Lebens angelangt. Etwas, worüber die Philosophen schon seit Jahrtausenden intensiv nachdenken, ohne zu einem allseits akzeptierten Ergebnis gekommen zu sein.

In die Phalanx derjenigen, die über vergeudete Zeit nachdenken, hat sich kürzlich auch der venezulanische Präsident Hugo Chávez eingereiht und Sonys beliebte PlayStation in seiner traditionellen Radioansprache als "Gift" bezeichnet. [1] Trifft er den Nagel nicht auf den Kopf? Wenn der Mensch am Ende seiner Tage lediglich auf die zahlreichen Versuche zurückblicken kann, bei der Rennsimulation "Need for Speed 3" in der Highscore-Tabelle an die Spitze zu gelangen, hat er offensichtlich falsch gelebt. Das, was sich der Homo ludens (lat. der spielende Mensch) ungern eingesteht, rief uns Hugo Chávez in Erinnerung: Spiele sind Zeiträuber. Und sie lassen uns verblöden. George W. Bush soll nämlich unbestätigten Meldungen zufolge ebenfalls eine Konsole besessen und damit eifrig Golfkrieg gespielt haben.

Allerdings hat der gute Hugo Chávez in der Praxis zunächst genau das Gegenteil erreicht. Nach der drastischen Abwertung der Landeswährung stürmten die Venezulaner die Geschäfte und deckten sich mit Fernsehern, Computern, Kühlschränken und anderen Importwaren ein. "Für Einfuhren, die die sozialistische Regierung als wichtig erachtet, gilt künftig ein Kurs von 2,6 Bolivar für einen Dollar. Bislang hatte er bei 2,15 Bolivar gelegen. Ein deutlich ungünstigerer Kurs von 4,3 Bolivar pro Dollar wird nun für Importe angesetzt, die die Staatsführung als zweitrangig einstuft. Der günstigere Wechselkurs gilt für Lebensmittel, die Gesundheitsversorgung, Maschinen und andere technische Geräte sowie Bücher. (...) Der ungünstigere Kurs wird unter anderem auf Autos, Telekommunikationsgeräte, Elektrogeräte, Tabak, Getränke, Chemikalien und petrochemische Produkte angewendet." [2] Ich möchte gar nicht wissen, wie viele PlayStations da über den Ladentisch gegangen sind. Kurzum: Chávez' Wechselkursreform war absolut kontraproduktiv. Gut gemeint ist halt nicht immer gut gemacht.

Wenigstens in Zukunft gilt für Venezuelas Jugend: Lieber mal ein gutes Buch (= günstiger Wechselkurs) lesen, als sich das Hirn mit grausamen Ego-Shootern (= ungünstiger Wechselkurs) ruinieren. Ob das Ansinnen wirklich Früchte trägt, ist jedoch zweifelhaft. Der Drang zu spielen ist bekanntlich riesengroß. Wie groß, entnehmen wir der Ankündigung von Amazon, den E-Book-Reader "Kindle" um Spielprogramme zu erweitern. [3] Bislang konnte man damit nur elektronische Bücher lesen, künftig sollen darauf auch Spiele laufen. Und es ist nicht davon auszugehen, dass sich die stolzen Kindle-Besitzer neben der Lektüre von Kants "Kritik der reinen Vernunft" bloß mit dem Spiel zum Buch beschäftigen werden. Wahrscheinlich ist es sogar eher umgekehrt, zum Spiel "World of Warcraft - die reine Unvernunft" liest man eben nebenbei das Buch zum Spiel. Allerhöchstens. Spiele dringen mittlerweile in die letzten Refugien des Bildungsbürgertums ein, es ist zum Verzweifeln.

Fazit: Die Bemühungen von Hugo Chávez um die Anhebung des Bildungsniveaus sind zwar äußerst lobenswert, doch vollkommen untauglich. Ich an seiner Stelle hätte die PlayStation für Propagandazwecke benutzt, sozusagen den Kapitalismus durch die Hintertür infiltriert. Anstatt Konsolenspiele zu verdammen, hätte ich welche produziert. Ideologisch korrekte, versteht sich. Schließlich sind der Phantasie bei Spielen keinerlei Grenzen gesetzt. Kuba überrundet in der Wirtschaftssimulation "Socialism versus Capitalism 2.0" die USA? No hay problema, señor presidente! Nordkoreas Staatschef Kim Jong-il gewinnt am virtuellen Pokertisch (Las Vegas IV) von Medienzar Rupert Murdoch das stockkonservative "Wall Street Journal" und schreibt daraufhin im Kampfblatt des Neoliberalismus täglich den Leitartikel? Amerikas Verleger würden schäumen vor Wut. Mahmud Ahmadinedschad bekehrt in "Crusaders under attack" Papst Benedikt XVI. zum wahren Glauben und darf das "Emirat Cordoba" von den Ungläubigen befreien? Auf Spanien spezialisierte Reiseveranstalter bewerten das PS3-Spiel bestimmt als extrem geschäftsschädigend. Dort, lieber Hugo, gewinnt man die Propagandaschlacht: in den Spielzimmern des Klassenfeindes.

Der Mangel am real existierenden Sozialismus war schon immer sein Mangel an Phantasie. Jiu Jitsu (die sanfte/nachgebende Kunst) bekämpft Angreifer nach dem Prinzip "Siegen durch Nachgeben" - seine Kraft soll gegen ihn selbst verwendet werden. Mit anderen Worten: Sonys PlayStation könnte bei der Bolivarischen Revolution wertvolle Dienste leisten. Wer die Herzen und vor allem die Hirne der amerikanischen Kids gewinnt, braucht sich um den Sieg im Klassenkampf nicht zu sorgen. Die PlayStation ist daher kein Gift, sondern ein scharfes Schwert in der Hand jedes Revolutionärs. Man muss bloß wissen, wie.

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[1] AFP vom 19.01.2010
[2] Frankfurter Rundschau vom 12.01.2010
[3] Süddeutsche vom 21.01.2010