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06. Februar 2010, von Michael Schöfer
Die Welt gerät aus den Fugen


Werte ändern sich, aber das Neue ist immer schlechter als das Vergangene. Das wussten schon die alten Griechen. Komisch, dass die Welt sich seither trotzdem ein bisschen weiterentwickelt hat. Wie dem auch sei, wenn der unehrliche deutsche Steuerhinterzieher nicht einmal mehr auf die Ehrlichkeit des Schweizer Bankpersonals vertrauen darf, das verhökert nämlich inzwischen peu à peu den gesamten eidgenössischen Datenbestand, woran kann man sich dann überhaupt noch festhalten? Viel schlimmer: Wenn die Alphatiere der Republik wie jeder andere x-beliebige Bundesbürger ihre Steuerschuld begleichen sollen, ist das Abendland in höchster Gefahr. Oder glauben Sie wirklich, ohne Schwarzgeld hätte sich für Alberto Giacomettis Bronzeskulptur "L'Homme qui marche", die Sotheby’s vor ein paar Tagen für 74,4 Mio. Euro versteigert hat, ein Käufer gefunden? Niemals! Sofern der anonyme Kunstfreund auf der Daten-CD gespeichert ist, die die nordrhein-westfälischen Steuerbehörden demnächst kaufen, muss der Handel womöglich rückgängig gemacht werden. Sehen Sie jetzt, wohin Steuerehrlichkeit führt? Die Kultur versiegt, die Künstler darben und die Kunstsammler müssen in Bälde, wie bereits die glücklose Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz, von der kargen Grundsicherung leben. Wollen Sie das wirklich? Sehen Sie. Und Sie stimmen mir deshalb gewiss zu: Man muss man den Steuerhinterziehern für deren kulturerhaltendes Engagement sogar danken.

Dass die Welt aus den Fugen gerät, erkennen wir hauptsächlich an der Deformation der Begriffe. Die Griechen haben es bislang als einzige bemerkt. Griechenland wird bekanntlich vorgeworfen, sich den Beitritt zur Euro-Zone mit getürkten Zahlen erschlichen zu haben. Die Angaben der Athener Regierung über den Schuldenstand seien bis vor kurzem ebenfalls getürkt gewesen. Meine hochverehrten Leserinnen und Leser, wenn die Griechen entrüstet darauf hinweisen, dass ihre Zahlen zwar gefälscht, aber keineswegs "getürkt" waren, haben sie vollkommen recht. Schließlich existiert zwischen Türken und Griechen nach wie vor eine gepflegte Feindschaft. Statistiken zu frisieren ist in der Tat eine delikate Angelegenheit, diesen Vorgang jedoch begrifflich in Verbindung mit dem ungeliebten anatolischen Nachbarn zu bringen, ist absolut inakzeptabel. Merke: Die griechische Statistik mag falsch sein, aber keinesfalls "getürkt". Wer Orient und Okzident nicht auseinanderhalten kann, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen, der ist quasi dem kulturellen Untergang geweiht. Tröstlich zu wissen, dass die Athener Schuldenberge auch künftig aus der Sintflut des Kulturverfalls herausragen werden. Kein Wunder, wenn man dort den Koloss von Rhodos, in Wahrheit ein riesiger antiker Leuchtturm, wiederzuerrichten gedenkt. Auf Pump, versteht sich, denn wenigstens die Griechen halten standhaft an Bewährtem fest.