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09. August 2010, von Michael Schöfer
Internet-Pranger für Sexualstraftäter?


Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs muss die Sicherungsverwahrung in Deutschland neu geregelt werden. Im Streit darüber, wie das erfolgen soll, hat Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), einen bizarren Vorschlag gemacht: Der Aufenthaltsort freigelassener Schwerkrimineller solle im Internet veröffentlicht werden, fordert Wendt. "Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, zu erfahren, wo sich entlassene Schwerkriminelle befinden", behauptet er. [1] "Ich will wissen, wenn ein Vergewaltiger in der Nachbarschaft meiner Enkelin wohnt." [2] Manchmal wäre es besser, man würde vor der Verkündung von Forderungen kurz innehalten und in Ruhe alle Konsequenzen überdenken. Schon Herodot (490-424 v. Chr., griechischer Historiker) empfahl nicht ohne Grund: "Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende."

Zunächst einmal dürfte der Internet-Pranger, das ist wahrscheinlich das wichtigste formale Argument, gegen das Grundgesetz verstoßen, denn auch entlassene Schwerkriminelle haben ein Recht auf die in der Verfassung verankerte Menschenwürde. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, hält überhaupt nichts von solchen Vorstößen und spricht in diesem Zusammenhang von einem "Verfall der Rechtskultur". "Außerdem stelle sich die Frage, inwieweit eine solche Maßnahme überhaupt besseren Schutz vor Straftätern biete, sagte Schaar. Erfahrungen aus den USA seien höchst negativ. Straftäter seien nicht ungefährlicher geworden. Aber sie seien total ausgegrenzt, ja, einige sind sogar umgebracht worden. Insofern würde eine solche Datei eine Einladung zur Selbstjustiz darstellen. 'Das einzige Ergebnis ist, dass die Person gebrandmarkt wird. Aber das ist ein Konzept aus vergangenen Jahrhunderten. Der Internet-Pranger ist nicht besser als der öffentliche Pranger im Mittelalter', sagte Schaar. Er stimme zwar der Grundauffassung zu, dass das Recht der Eltern und Kinder auf Unversehrbarkeit Vorrang haben müsse, aber Grundgesetz und Rechtsstaat schützten auch einen verurteilten Straftäter." [3]

Andernorts sind Internet-Pranger längst üblich, zum Beispiel - wie von Peter Schaar erwähnt - in den USA. Auf der Website des Justizministeriums sind alle US-Bürger erfasst, die wegen einer Sexualstraftat verurteilt wurden. "Wer dort nach registrierten Tätern in seiner Stadt sucht, erhält eine Liste von Namen. Zu jedem Namen sieht er das Foto des Täters, seine aktuelle Adresse, Details zur Verurteilung und eine Liste der physischen Merkmale." [4] Dass Internet-Pranger eine Einladung zur Lynchjustiz sind, ist keine Theorie, sondern bereits bittere Realität. So wurden etwa 2006 im US-Bundesstaat Maine zwei Männer erschossen, die in der Triebtäter-Datenbank des Bundesstaates verzeichnet waren. Im Gepäck des Schützen fand die Polizei einen Laptop mit den Namen und Adressen von 34 Sexualstraftätern. Einer der Erschossenen war allerdings kein Vergewaltiger, er hatte als 19-Jähriger lediglich Sex mit seiner 15-jährigen Freundin und wurde wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt. [5] Zur Erläuterung: "In den meisten US-Staaten dürfen Personen über 18 keine sexuelle Beziehung zu Minderjährigen haben, auch wenn diese bereits 17 sind." [6]

Erinnern Sie sich noch an Marco Weiss, den deutschen Schüler, der 2007 während eines Türkei-Urlaubs eine 13-jährige Britin vergewaltigt haben sollte? Den inzwischen abgeebbten Medien-Hype kann man eigentlich nicht vergessen, insbesondere die Boulevard-Presse echauffierte sich über Weiss' Behandlung durch die türkische Justiz. Marco W. wurde am 16. September 2009 zu einer Bewährungsstrafe von 2 Jahren, 2 Monaten und 20 Tagen Haft wegen sexuellem Missbrauch verurteilt. Er schrieb ein Buch über seine Haft-Erfahrungen (Titel: "Meine 247 Tage im türkischen Knast") und es gibt eine Unterstützer-Website. Folgt man Rainer Wendt, müsste man Marco Weiss in den Internet-Pranger aufnehmen. Unter Umständen würde er dann wie der US-Bürger in Maine um sein Leben fürchten müssen. Es gibt weitere Fälle von Lynchjustiz. "Im September 2005 waren im Bundesstaat Washington zwei Pädophile getötet worden, deren Namen der Täter in einem öffentlichen Register gefunden hatte." [7] Andere hatten Glück im Unglück, man hat ihnen nur das Haus angezündet.

Aber nicht nur Sexualstraftäter müssen Internet-Pranger fürchten, auch weit harmlosere Zeitgenossen werden neuerdings öffentlich bloßgestellt. Bei der Polizei von Chicago existiert ein Online-Pranger für Freier. Wer "bei einer Prostituierten erwischt und festgenommen wird, erscheint mit Foto, vollem Namen und Wohnanschrift auf der Seite des Chicago Police Department. Die Seite wird täglich aktualisiert, die Bilder bleiben dreißig Tage lang online. Chicagos Bürgermeister Richard Daley droht: 'Wenn Sie sich mit einer Prostituierten einlassen, werden Sie verhaftet und alle werden es erfahren: Ihre Frau, Ihre Kinder, die ganze Familie, Nachbarn und auch Ihr Chef.'" [8] Es reicht dort übrigens vollkommen aus, im Zusammenhang mit Prostitution "verhaftet" oder "angeklagt" zu werden, eine Verurteilung ist für die Anprangerung im Internet gar nicht notwendig. So viel zur Unschuldsvermutung. Der Hinweis auf der Website der Chicagoer Polizei, "These individuals are presumed innocent until proven guilty in a court of law" (deutsch: Diese Personen sind unschuldig, bis sie von einem Gericht für schuldig befunden wurden), ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten geradezu hanebüchen. Und er wird die Familie oder den Chef kaum besänftigen.

Doch damit nicht genug, in den USA wurden sogar schon Steuerhinterzieher öffentlich angeprangert. "Die amerikanische Steuerbehörde IRS (Internal Revenue Service) veröffentlicht im Internet die Namen von wegen Steuerhinterziehung verurteilten Kunden der Schweizer Großbank UBS. Derzeit stehen 17 Personen auf der Liste." [9] Unweigerlich drängen sich Fragen auf: Wo fängt das Ganze an? Und vor allem: Wo hört es wieder auf? Das kennen wir ja zur Genüge: Zu Beginn sollen angeblich nur Schwerverbrecher betroffen sein, dafür bekommen die Initiatoren vielleicht noch Beifall, zum Schluss werden die Maßnahmen auf nahezu alle Bürger ausgeweitet. Herodot lässt grüßen: Bedenke das Ende.

Man darf das ruhig zu Ende denken: Warum keinen Internet-Pranger für Raser (geeignete Qualität der Radarfallenbilder vorausgesetzt)? Immerhin gibt es noch genügend Kinder, die Verkehrsunfällen zum Opfer fallen. Ich will wissen, ob mein Nachbar ein notorischer Raser ist und womöglich meine Tochter überfahren könnte. Wie wäre es mit einem Internet-Pranger für Mietnomaden, Taschendiebe, reisende Wohnungseinbrecher oder Scheckkartenbetrüger? Für alles lässt sich eine mehr oder weniger überzeugende Begründung finden, selbst für eine Datenbank, in der Hochstapler und Heiratsschwindler enthalten sind. Verursachen die nicht Millionenschäden? Der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Der Phantasie nicht, aber dem Rechtsstaat.

Das alles hätte Rainer Wendt bedenken sollen, bevor er die Lufthoheit über den Stammtischen anpeilte. Sein Vorschlag ist in meinen Augen reiner Populismus. Gewiss, die Polizei ist mit der Überwachung von aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Schwerverbrechern überfordert, u.a. eine Folge der massiven Personalreduzierungen vergangener Jahre. Mit dem Internet-Pranger, einem rechtsstaatlich höchst fragwürdigen Instrument, ist dieses Problem aber nicht zu lösen.

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[1] Die Welt-Online vom 09.08.2010
[2] Süddeutsche vom 09.08.2010
[3] billiger-telefonieren.de vom 09.03.2007
[4] Die Zeit 37/2007
[5] Spiegel-Online vom 22.04.2006
[6] Hamburger Abendblatt vom 10.07.2006
[7] Süddeutsche vom 18.04.2006
[8] Die Zeit, a.a.O.
[9] Der Standard vom 01.08.2010