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17. Oktober 2010, von Michael Schöfer
Sind Lügen verfassungsgemäß, Volksentscheide dagegen nicht?


Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sagt zum von der SPD, den Grünen und den Projektgegnern geforderten Volksentscheid über das Bahnprojekt "Stuttgart 21": "Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten dar. Irgendwann muss hier ein Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden haben. Ansonsten verlieren wir unsere Zukunftsfähigkeit. Es mag Ausnahmen von diesem Grundsatz geben, diese sollten aber nicht Schule machen." [1]

Dass Volksentscheide ein von allen Gremien beschlossenes Vorhaben nachträglich verwerfen, ist in der Tat bedenklich. Unbestreitbar, irgendwann muss es Rechtssicherheit geben. Allerdings trifft der Vorwurf Voßkuhles nicht den Kern des Problems. In der Schweiz ist so etwas - unter Einhaltung bestimmter Fristen - durchaus üblich. Doch selbst hier hätte man das Volk ganz legal befragen können. Am 14. November 2007 wurden im Stuttgarter Rathaus 61.193 rechtsgültige Unterschriften für ein Bürgerbegehren, das den Ausstieg aus dem Projekt zum Ziel hatte, übergeben. Es wären lediglich 20.000 Unterschriften notwendig gewesen. [2] Zum damaligen Zeitpunkt waren die Planungen zwar weit fortgeschritten, aber man hatte noch nicht mit dem Bau begonnen, das geschah erst am 2. Februar 2010. Die Vorvereinbarung über die Verteilung der Kosten und Risiken wurde am 19. Juli 2007 unterzeichnet, obgleich zu diesem Zeitpunkt bekannt war, dass eine Bürgerinitiative Unterschriften für den Bürgerentscheid sammelt. Die Verantwortlichen haben das kurzerhand ignoriert. Nach § 21 Abs. 1 der Gemeindeordnung hätte außerdem der Gemeinderat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen aller Mitglieder einen Bürgerentscheid beschließen können. Es wäre also möglich gewesen, aber es war politisch nicht gewollt. Nur zur Erinnerung: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." (Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz)

Stattdessen zog man sich auf formale Gründe zurück. Der Antrag auf Zulassung des Bürgerentscheids wurde "am 20. Dezember 2007 vom Stuttgarter Gemeinderat mit 45 zu 15 Stimmen mit der Begründung abgelehnt, dass er rechtlich unzulässig sei. Das Regierungspräsidium Stuttgart und das Verwaltungsgericht Stuttgart wiesen Widersprüche von Vertretern des Bürgerentscheids zurück." [3] Der Bürgerentscheid ist also seinerzeit mit fadenscheinigen Argumenten gezielt verhindert worden. Sich jetzt darauf zu berufen, dass eine Volksabstimmung erst "nachträglich" käme und die Rechtssicherheit gefährde, ist unredlich. Schließlich wurde der Bürgerentscheid im Jahr 2007 von der Politik verhindert, die Bürger hatten ihn gewollt, wurden aber trickreich ausgebremst.

Doch es kommt noch besser: Oberbürgermeister Wolfgang Schuster versprach sogar im OB-Wahlkampf 2004, einen Bürgerentscheid zu unterstützen, falls auf die Landeshauptstadt Mehrkosten von "deutlich über 100 Millionen Euro" zukommen. Schuster habe "nach juristischer Prüfung durch die Stadt bestätigt, dass ein Bürgerentscheid über Mehrkosten im Sinne einer wichtigen Gemeindeangelegenheit (Gemeindeordnung) bei eventuell eintretenden erheblichen Kostensteigerungen für die Stadt, rechtlich möglich wäre", schrieb Boris Palmer, 2004 in Stuttgart grüner OB-Kandidat, in einer Erklärung. [4] Unter anderem wegen dieser Zusage verzichtete Palmer auf den zweiten Wahlgang. Was 2004 nach juristischer Prüfung möglich war, soll drei Jahre später aus rechtlichen Gründen unzulässig sein? Es stellt sich unweigerlich die Frage: Wer hat denn da wann gelogen?

OB Schuster sagte darüber hinaus im Jahr 2007 über den Betrag, der den Bürgerentscheid auslösen sollte: "Zum Zeitpunkt dieser Zusage hatte der Gemeinderat in den Jahren 1995 und 2001 bereits 78,1 Millionen Euro für Stuttgart 21 bewilligt." Es stehe jetzt fest, "dass sich die Stadt mit 31,56 Millionen Euro - wie bereits 1995 und 2001 beschlossen - direkt beteiligt und weitere 131 Millionen Euro für ein mögliches Baukostenrisiko bereitstellt." Das seien gegenüber der Summe im OB-Wahlkampf 84,46 Mio. Euro mehr - "allerdings nur für den Fall, dass das Baukostenrisiko eintritt. Diese Summe liegt deutlich unter den Beträgen, von denen im Jahr 2004 die Rede war." [5]

Nun, das Baukostenrisiko ist längst eingetreten: Von den offiziellen Kosten (Stand: Ende 2009) trägt die Stadt Stuttgart für das Teilprojekt "Stuttgart 21" 238,5 Mio. Euro. Wird "Stuttgart 21" teurer als bislang veranschlagt, muss die Landeshauptstadt eventuell weitere 53,3 Mio. Euro zuschießen. [6] In dieser Kalkulation sind die 212 Mio. Euro Zinsen, die die Stadt Stuttgart der Deutschen Bahn erlassen hat, noch gar nicht enthalten. [7] "Wenn man die direkten und indirekten Kosten zusammenzählt, ist die Stadt mit weit über einer Milliarde Euro an Stuttgart 21 beteiligt." [8] Wird das Projekt teurer als im Risikofonds einkalkuliert, muss die Kommune wahrscheinlich weitere Kosten tragen. Der einst von Schuster versprochene Bürgerentscheid ist freilich immer noch nicht durchgeführt worden. Wie mögliche Mehrkosten, die den Risikofonds übersteigen, unter den Beteiligten aufzuteilen sind, ist unklar. Das Risiko, dass es soweit kommt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Die Kosten des Gesamtprojekts sind nämlich inzwischen bedeutend höher, als bei der ursprünglichen Planung angegeben. Anfangs sollte das Teilprojekt "Stuttgart 21" 2,6 Mrd. Euro und die ICE-Neubaustrecke Wendlingen-Ulm 1,5 Mrd. Euro kosten. Im Jahr 2007 hat man die Kosten für das Teilprojekt "Stuttgart 21" auf 2,8 Mrd. Euro und die Kosten der ICE-Neubaustrecke Wendlingen-Ulm auf 2 Mrd. Euro korrigiert. [9] Ein Jahr später waren es für das Teilprojekt "Stuttgart 21" bereits 3,076 Mrd. Euro. [10] Ein Bahnsprecher bezeichnete das Ganze dennoch als "solide kalkuliert". [11] Diese Aussage hielt immerhin ein weiteres Jahr. Im Dezember 2009 bezifferte Bahnchef Grube die Kosten für "Stuttgart 21" plötzlich auf 4,1 Mrd. [12] "Mit den nun vorliegenden Zahlen liegen alle heute bekannten Fakten auf dem Tisch", versprach er damals. [13] Ein halbes Jahr danach, im Juli 2010, korrigierte er auch die Kosten für die ICE-Neubaustrecke auf 2,89 Mrd. Euro. [14] Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus nannte die neu errechnete Summe trotz allem "überschaubar und begründbar".

Die Projektgegner behaupten, dass das Ende der Fahnenstange in Bezug auf Kostensteigerungen noch lange nicht erreicht sei. Bislang haben sie mit ihren Befürchtungen stets recht behalten. "Eine im Auftrag von BUND und Bündnis 90/Die Grünen erstellte Studie der Verkehrsberatung Vieregg-Rössler prognostizierte Mitte 2008 wahrscheinliche Gesamtkosten für [das Teilprojekt] Stuttgart 21 in Höhe von 6,9–8,7 Milliarden Euro." [15] Die Ermittlung der Baukosten für die Neubaustrecke nach Ulm war nicht Gegenstand der Untersuchung. Der Bundesrechnungshof kalkulierte im gleichen Jahr für das Teilprojekt "Stuttgart 21" Kosten in Höhe von 5,3 Mrd. Euro und für die ICE-Neubaustrecke Wendlingen-Ulm Kosten in Höhe von 3,2 Mrd. Euro. [16] Alles Summen, die den Risikofonds weit übersteigen.



Das Bundesverfassungsgericht genießt - zu Recht - ein hohes Renommee. Die von Voßkuhle geforderte Rechtssicherheit ist ein Aspekt, Ehrlichkeit ein anderer. Die Grundlagen von "Stuttgart 21" beruhen, wie man unschwer erkennen kann, auf einem Lügengebäude. Zunächst wird das Projekt schöngerechnet, um es in den Gremien durchzupauken, danach erhöht man peu à peu den Finanzierungsrahmen, verweigert aber den Bürgern, die das Ganze über ihre Steuern finanzieren, die versprochene Beteiligung. Sind Lügen verfassungsgemäß, Volksentscheide dagegen nicht? Ich glaube, das ist ebenfalls "ein ernsthaftes Problem", Herr Voßkuhle.

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[1] Süddeutsche vom 16.10.2010
[2] vgl. § 21 Gemeindeordnung
[3] Wikipedia, Stuttgart 21, Proteste
[4] Website von Boris Palmer, PDF-Datei mit 20 kb
[5] Stadt Stuttgart, Pressemeldung vom 23.07.2007
[6] Bahnprojekt Stuttgart-Ulm, Finanzierung Stuttgart 21
[7] Gemeinderatsbeschluss vom 25.09.2007
[8] Clarissa Seitz, Sprecherin des BUND Kreisverbands Stuttgart
[9] Spiegel-Online vom 19.07.2007
[10] Stuttgarter Zeitung vom 19.08.2008
[11] Stuttgarter Nachrichten vom 03.11.2008
[12] FAZ.NET vom 10.12.2009
[13] Stadt Stuttgart, Pressemeldung vom 10.12.2009
[14] Stuttgarter Zeitung vom 27.07.2010
[15] Wikipedia, Stuttgart 21, Kosten und Finanzierung; das Gutachten ist hier dokumentiert, PDF-Datei mit 1,2 MB
[16] Leben in Stuttgart, PDF-Datei mit 561 kb