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30. Juni 2012, von Michael Schöfer
Nicht allzu weit davon entfernt


Als die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) vor kurzem im Zusammenhang mit der Mordserie der Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) vom Vorhandensein eines "Tiefen Staates" in der Bundesrepublik sprach, erhob sich lautes Geschrei. Insbesondere die Landes-CDU empörte sich: "Durch Presseberichte am 9. Juni 2012 wurde allgemein bekannt, dass Integrationsministerin Öney sich auf einer Veranstaltung im Alevitischen Kulturzentrum in Stuttgart zur Existenz eines sogenannten 'Tiefen Staats' in Deutschland geäußert hat. Nach der Online-Berichterstattung der türkischen Zeitung "Hürriyet" vom 4. März 2012 ('Kaç?n Bilkay geliyor') und nach Aussagen aus dem Kreis der Veranstaltungsteilnehmer (so in: 'Heilbronner Stimme' vom 9. Juni 2012, S. 5) hat sie dabei im Zusammenhang mit den Morden der Terrorzelle 'Nationalsozialistischer Untergrund' den Satz geäußert: 'Den 'Tiefen Staat' gibt es auch in Deutschland.' Der Begriff des 'Tiefen Staates' wird in der Türkei bzw. in Bezug auf diese im Sinne einer Verflechtung von Sicherheitskräften, Politik, Justiz, Verwaltung und Organisierter Kriminalität gebraucht, in jüngerer Zeit insbesondere mit Blick auf die mutmaßliche türkische Untergrundorganisation 'Ergenekon'. Die Behauptung, es gebe in Deutschland einen 'Tiefen Staat' ist dazu geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung – insbesondere der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund – in die staatlichen Institutionen zu untergraben. Sie schadet dem Ansehen des Landes Baden-Württemberg und der Bundesrepublik Deutschland. Wer solche Verschwörungstheorien in Umlauf setzt oder ihnen Vorschub leistet, zieht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in unserem Gemeinwesen in Zweifel. Wer eine Verbindung zwischen einem 'Tiefen Staat' und den abscheulichen Mordtaten der Terrorzelle 'Nationalsozialistischer Untergrund' herstellt, diffamiert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei und Verfassungsschutz in inakzeptabler Weise." [1]

Das Vertrauen der Bevölkerung in Polizei und Verfassungsschutz ist in der Tat beschädigt, aber nicht durch Öneys Äußerung, sondern durch eigenes Unvermögen. So erklärte etwa der ehemalige BKA-Vizepräsident Bernhard Falk vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages "die Ermittlungen zur Aufklärung der zehn Morde an neun Migranten und einer deutschen Polizistin durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) seien 'kriminaltechnisch stümperhaft' gewesen". Auch der amtierende BKA-Präsident Jörg Ziercke gab unumwunden zu: "Wir haben versagt." [2] Nun spricht Stümperhaftigkeit und Versagen noch nicht für das Vorhandensein eines "Tiefen Staates", doch scheinen die Praktiken der Verfassungsschutzämter genau in diese Richtung zu weisen. Wie will man zum Beispiel erklären, dass ein Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz noch nach der Enttarnung der Terrorzelle wichtiges Aktenmaterial über die rechtsextreme Szene in Thüringen ("Operation Rennsteig") vernichtet hat und obendrein monatelang über den Zeitpunkt der Vernichtungsaktion log? [3] Wie will man erklären, dass der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) die Ermittlungen der Kasseler Polizei behinderte, die Informationen über einen Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes haben wollte, der bei einem Mord der Terrorzelle - angeblich vollkommen zufällig - am Tatort war? [4] Wie will man erklären, dass dieser Verfassungsschutzbeamte (Spitzname: "kleiner Adolf") dann auch noch tagelang über seine Anwesenheit am Tatort geschwiegen hat und zudem kurz vor der Tat und kurz nach der Tat mit einer bislang geheimen Quellperson ("GP 389") telefoniert haben soll? [5] Oder warum sabotierte der Thüringer Verfassungsschutz die Observation eines Neonazis, der Kontakt zur Terrorzelle hatte? Das LfV hat seinen V-Mann "über die Observationsmaßnahmen der Polizei auf dem Laufenden gehalten. Dem Neonazi sei demnach mitgeteilt worden, dass er aus einer angemieteten Wohnung in der Nähe seines Hauses heraus überwacht werde." [6] Alles bloß unprofessionelle Stümperhaftigkeit und peinliches Versagen? Oder doch Absicht? Die zahlreichen Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Terrorzelle NSU fügen sich langsam zu einem Bild zusammen. Ein Bild allerdings, vor dem jeder Demokrat erschrecken muss. Der Verfassungsschutz hat geschützt, aber offenkundig nicht die Verfassung. Die Schlapphüte haben intensiv beobachtet, aber nach eigenen Angaben überhaupt nichts gesehen. Entweder sind sie total unfähig und damit überflüssig, oder sie sind gefährlich - gefährlich für die Demokratie.

Selbst der Ausschuss-Obmann der Union, Clemens Binninger (CDU), räumt angesichts der dubiosen Aktenvernichtungsaktion des BfV ein: Der Vorfall sei "nicht geeignet, Verschwörungstheorien den Boden zu entziehen." [7] Ganz im Gegenteil: Mittlerweile drängt sich förmlich der Eindruck auf, dass die Verschwörungstheorien gar keine Theorien mehr sind, sondern vielmehr bittere Realität. Könnte es nicht sein, dass in den den Reihen der "Verfassungsschützer" tatsächlich so etwas wie ein "Tiefer Staat" existiert? Zumindest ansatzweise? Hat Bilkay Öney nicht doch ein bisschen recht gehabt? Jedenfalls war die künstliche Aufregung der baden-württembergischen CDU voreilig, denn das letzte Kapitel dieser schauderhaften Geschichte ist noch längst nicht geschrieben. Eine Partei, deren ehemaliger Landeschef und Ministerpräsident (Stefan Mappus) Probleme mit der Einhaltung der Landesverfassung hat (Stichwort: EnBW) und scheinbar willig an den Fäden von höchst fragwürdigen Finanzakrobaten hängt (Dirk Notheis), sollte etwas bescheidener auftreten. Neuerdings attestiert der baden-württembergische CDU-Fraktionschef Peter Hauk seinem früheren Chef einen "autokratischen Politikstil". "Mappus habe ein Demokratieverständnis gezeigt, das er nicht teile." [8] Man reibt sich verwundert die Augen, denn vor einem Jahr hätte die CDU solche Vorwürfe in Richtung Mappus empört zurückgewiesen bzw. vehement geleugnet. Die einst als unbesiegbar geltende Landespartei hätte das als Zerrbild des politischen Gegners abgetan und bestimmt von inakzeptabler Diffamierung und verwerflicher Untergrabung des Vertrauens der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen gesprochen. Genauso wie jetzt beim von Öney ausgesprochenen Verdacht vom "Tiefen Staat". Hoffentlich muss Peter Hauk diesbezüglich in einem Jahr nicht ebenfalls kleinlaut zurückrudern.

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[1] Landtagsanfrage der CDU-Landtagsfraktion vom 11.06.2012, PDF-Datei mit 206 kb
[2] Frankfurter Rundschau vom 29.06.2012
[3] Frankfurter Rundschau vom 28.06.2012
[4] Frankfurter Rundschau vom 29.06.2012
[5] Der Freitag vom 01.06.2012
[6] Berliner Zeitung vom 19.12.2011
[7] Die Zeit-Online vom 29.06.2012
[8] Die Welt-Online vom 30.06.2012