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20. Oktober 2013, von Michael Schöfer
Phantomtor


Sprache unterliegt einer ständigen Wandlung. "Uns ist in alten mæren wunders vil geseit", beginnt im Mittelhochdeutschen das Nibelungenlied. Übersetzt heißt das: "Uns wurde in alten Erzählungen viel Wundersames gesagt." Wie wahr! Und diese Aussage gilt sogar noch heute, nur nennt man das Ganze jetzt "Public Relations". Wörter verlieren in diesem permanenten Wandlungsprozess nicht nur ihre ursprüngliche Bedeutung, so ist beispielsweise "Reform" inzwischen zu einem Synonym von "Sozialabbau" mutiert (früher war es eng mit "sozialem Fortschritt" verbunden), sondern es kommen darüber hinaus fortwährend neue Begriffe hinzu. Der Satz "Ich habe dich gegoogelt" hätte vor 20 Jahren Anlass gegeben, ernsthaft an der geistigen Gesundheit des Vortragenden zu zweifeln (bevor die Suchmaschine 1998 online ging, war das Verb "googeln" schlicht inexistent). Inzwischen hat es die allseits anerkannte Bedeutung von "Ich habe im Internet ein bisschen NSA gespielt". Ach so, na dann... Seit diesem Wochenende steht auf dem Merkblatt der Duden-Redaktion der Terminus "Phantomtor".

Gebildetere Zeitgenossen kennen ja schon seit langem "Das Phantom der Oper", den Roman des Schriftstellers Gaston Leroux. Glücklicherweise hat Andrew Lloyd Webber den Stoff mit dem gleichnamigen Musical auch breiteren Schichten zugänglich gemacht. Menschen, die weder Romane lesen noch jemals Musicals besuchen, sind vielleicht die Fantomas-Filme des französischen Komikers Louis de Funès ein Begriff. Funès reüssierte mit so geistreichen Werken wie "Camouflage - Hasch mich, ich bin der Mörder", "Die Abenteuer des Rabbi Jacob" oder "Balduin, der Schrecken von Saint-Tropez". Erstaunlich: Mit der Schreibweise "Fantomas" (anstatt "Phantomas") hat er bereits in den sechziger Jahren versucht, die Rechtschreibreform vorwegzunehmen. "Phantom" ist ohnehin ein Lehnwort aus dem Französischen und kommt von "fantôm". Die Wiener Orthographiekonferenz machte dann allerdings den "Delphin" zum "Delfin", aber nicht das "Phantom" zum "Fantom". Filosofische, Verzeihung, philosophische Gedanken über diese ungeheuerliche Ignoranz sind müßig.

Medizinisch Bewanderten ist gewiss das Wort "Phantomschmerz" geläufig. Den spüren die Betroffenen, wenn etwa am amputierten Bein der Fußpilz juckt. In der Politik ist dieses Phänomen ebenfalls anzutreffen: Als Helmut Kohl 1998 nach schier endlos erscheinender 16-jähriger Regentschaft abgewählt wurde, haben wir noch viel später allein bei der Erwähnung seines Namens aufgestöhnt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt längst Geschichte war. Auch bei Angela Merkel ist der Phantomschmerz vorprogrammiert, wenngleich in ihrem Fall noch nicht einmal die Amputation terminiert ist. Sigmar Gabriel, der behandelnde Oberarzt, will nämlich die zwingend notwendige Operation so lange wie möglich hinauszögern, das rot-rot-grüne Skalpell bleibt daher bis auf weiteres in der Schublade.

Zurück zum Phantomtor. Es trat, wie historisch geschulte Fußballanhänger wissen, erstmals 1966 im Finale der Fußballweltmeisterschaft auf. Damals nannte man es freilich noch "Wembley-Tor" - ein Tor, das gar keins war (behaupteten zumindest die Deutschen). Nun hat es erneut im badischen Hoffenheim zugeschlagen. Es spricht für die Heimtücke des Phantomtors, dass es diesmal ein Loch im Netz ausnutzte, während ihm 1966 noch die Unterkante der Latte behilflich gewesen ist. Angesichts des technischen Fortschritts bei der Fernsehübertragung (von verwaschenem Schwarz-Weiß zu brillantem HDTV) sind wir jedoch in der glücklichen Lage zweifelsfrei belegen zu können, dass der Ball in Hoffenheim irregulär ins Tor befördert wurde. Etwas, das dem Schützen des Wembley-Tors, Geoff Hurst, selbst nach der hunderttausendsten Zeitlupenwiederholung nicht nachzuweisen war.

Und was macht der DFB? Der muss zur Annullierung des offenkundig irregulären Tores erst die Fifa kontaktieren. Dabei kann ja kaum etwas Gutes herauskommen. 1966 fragte der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst den sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow: "Gehen wir nach dem WM-Finale noch ein Bier trinken?" Und als der daraufhin für alle erkennbar nickte, stand es plötzlich 3:2 für England. Bachramow revidierte später seine Meinung und orderte lieber Wodka, was aber an der Entscheidung der Fifa, England den Weltmeistertitel zu belassen, nichts mehr änderte. Einmal angenommen, Stefan Kießling, der in Hoffenheim den Ball durchs Außennetz hindurch ins Tor köpfte, würde wegen diesem einen Treffer mehr zum Torschützenkönig der Bundesliga. Da könnte man ja gleich Lance Armstrong zum Botschafter der Anti-Doping-Agentur ernennen. Oder Karl-Theodor zu Guttenberg als Mitglied einer Wahrheitskommission.

Das Phantomtor verlässt uns wahrscheinlich nie wieder: Schiedsrichter werden weiterhin irrtümlich glauben, es seien reguläre Tore gefallen. Politiker werden auch künftig annehmen, mit 41,5 Prozent Mehrheiten errungen zu haben. Noch schlimmer: Die SPD wird dabei den Linienrichter spielen und heftig nicken. Und beim Duden wird man sich bestimmt mächtig ärgern. Die 26. Auflage des Standardwerks der deutschen Rechtschreibung ist gerade erst erschienen, bis das Phantomtor Eingang in die 27. Auflage findet, kann es also noch ein Weilchen dauern. "Leider haben wir zu Ihrer Suche nach 'Phantomtor' keine Treffer gefunden", bedauert Duden-Online derzeit. Am Montag, nach der Analyse des Bundesligaspieltags, ändert sich das vermutlich schnell.

Schade, dass Spieler selten den Mut haben zuzugeben, ein irreguläres Phantomtor geschossen zu haben. Die Suche nach "Ehrlichkeit" liefert bei Duden-Online zwar 28 Treffer - aber eben bloß dort, bedauerlicherweise nicht auf dem Fußballplatz. Man stelle sich vor, Nationaltorhüter Manuel Neuer hätte im Achtelfinale der WM 2010 gegen England zum Schiedsrichter gesagt, dass der Ball von Frank Lampard hinter der Linie war. Er hätte zweifellos den Fairplay-Pokal bekommen und wäre als leuchtendes Vorbild in den Panthéon der Fußballlegenden aufgenommen worden. Doch Neuer schwieg, Englands Treffer wurde nicht anerkannt und Deutschland gewann 4:1. Die Nation jubelte, aber das Ganze hat bis heute einen bitteren Nachgeschmack. Will man so gewinnen? Nun, fragen Sie mal Angela Merkel.