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11. Dezember 2014, von Michael Schöfer
Eine irrwitzige Ökonomie


Jetzt also auch die OECD: Auch sie beklagt neuerdings die wachsende Ungleichheit in den Industriestaaten, obgleich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung daran ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung trägt, schließlich gehört sie seit Jahrzehnten zu den Verkündern neoliberaler Weisheiten. Genau jenen Weisheiten, die zu der von ihr kritisierten Ungleichheit geführt haben. "Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich schafft nicht nur sozialen Unfrieden, sondern kostet den Volkswirtschaften auch Wachstum", lesen wir nun. "So hätte die deutsche Wirtschaft zwischen 1990 und 2010 um sechs Prozentpunkte stärker wachsen können, wenn die Ungleichheit auf dem Niveau von Mitte der 1980er Jahre verharrt hätte." [1] Ach ja?

Alles keine neue Erkenntnis. Und hat es dazu echt noch eines Berichts der OECD bedurft? Dass die Kluft zwischen Arm und Reich seit Jahrzehnten größer wird, ist nämlich seit langem bekannt. Die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft ebenso. Es ist ohnehin kurios, was sich diesbezüglich abspielt. Da schreibt beispielsweise der französische Ökonom Thomas Piketty einen 800 Seiten-Wälzer über die Ungleichheit ("Das Kapital im 21. Jahrhundert") und wird dafür von den meisten über den grünen Klee gelobt. Ein Bestseller, aber wie viele das Buch wohl tatsächlich lesen werden? Egal, jedenfalls sind solche Studien respektive Bücher momentan en vogue. Seltsamerweise ändert das aber nichts daran, dass eine gewisse Angela Merkel anderen Ländern ihre neoliberalen Rezepte aufoktroyiert, zum Beispiel unserem Nachbarland Frankreich. Die Franzosen sollen endlich anfangen wie die "schwäbische Hausfrau" zu sparen und Reformen à la Gerhard Schröders "Agenda 2010" umsetzen, rät ihnen die deutsche Regierung. Von Merkels verheerender Sparpolitik gegenüber den südeuropäischen Krisenstaaten und den dort zutage tretenden sozialen Verwerfungen ganz zu schweigen.

Und was macht das geneigte Publikum? Beifall klatschen! Und zwar beiden - Piketty UND Merkel, obgleich das ja ein Widerspruch ist. Piketty empfiehlt die Einführung einer progressiven Vermögensteuer von bis zu 2 Prozent und obendrein eine stark progressive Einkommensteuer mit einem Spitzensatz von bis zu 80 Prozent. Er will damit die Ungleichheit reduzieren. Nichts könnte von Merkels Positionen weiter entfernt sein als das. Trotzdem bekommt sie hierzulande ebenfalls Beifall. Schlüssig ist das nicht.

Wir erleben derzeit keine Wirtschaftskrise, sondern im Grunde eine Krise der Wirtschaftswissenschaften. Die Politik setzt bloß das um, was die eindimensional auf neoliberale Rezepte festgelegten Ökonomen landauf, landab predigen. Zumindest die Eurozone bewegt sich deshalb sukzessive auf eine Deflation zu (Prozess ständiger Preisniveausenkungen). Zur Erinnerung: Die Ökonomen liegen uns seit Jahren mit ihren offenkundig übertriebenen Warnungen vor der Inflation (Prozess ständiger Preisniveausteigerungen) in den Ohren. Unverschämtheit: Die Realität hält sich nicht an die Vorgaben. Konsequenz der Wirtschaftswissenschaftler: Schlimm für die Realität, wenn sie sich nicht nach der Theorie richtet. Die neoliberalen Rezepte sind jedenfalls sakrosankt.

Dafür, wie man es falsch machen kann, ist Japan das beste Beispiel. Das Land leidet seit Mitte der neunziger Jahre unter einer schier unüberwindlichen Deflation. Die privaten Konsumausgaben tragen zu rund 60 Prozent zur Wirtschaftsleistung der japanischen Volkswirtschaft bei, dennoch spart man dort am falschen Ende, und zwar an den Verdiensten der Arbeitnehmer. Japan war einmal bekannt für die lebenslange Anstellung seiner Arbeitnehmer und deren Aufstieg nach dem Senioritätsprinzip. Die japanische Industrie galt als effizient und innovativ. Einst hat man uns Japan sogar als Vorbild empfohlen. Aus und vorbei, heute sind dort getreu den neoliberalen Rezepten atypische Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit-, Zeit- und Leiharbeitnehmer, studentische Aushilfskräfte) fast schon die Regel. Wie bei uns. "Fast 40 Prozent der arbeitenden Japaner sind Zeitarbeiter, vor allem Junge und Frauen. (…) Sie haben keinen Kündigungsschutz, ihre Verträge sind befristet. Viele bekommen keinerlei Weiterbildung, kaum Sozialleistungen und haben keine Aufstiegschancen. Berücksichtigt man die Inflation, welche die Notenbank zu provozieren sucht, sind sogar die Löhne der Festangestellten gefallen. Real verdienen sie 2,8 Prozent weniger als im Jahr 2013.  (…) Derweil hocken Nippons Konzerne auf mehr als 1,5 Billionen Euro Cash. Doch sie machen keine Anstalten, ihre Arbeitnehmer davon profitieren zu lassen." [2]

Was für eine irrwitzige Ökonomie: In den Industriestaaten sinken die Reallöhne der Arbeitnehmer, während die Banken inzwischen ihren Großkunden Negativzinsen auferlegen, weil Letztere ihre Milliarden lieber auf den Konten horten anstatt sie in die Realwirtschaft zu investieren. Dank Steueroasen wie Luxemburg zahlen die Unternehmen trotz sprudelnder Gewinne nicht einmal adäquat Steuern. Doch genau hier beißt sich der Hund in den Schwanz: Warum investieren, wenn die Nachfrage angesichts fallender Reallöhne darniederliegt? Unbeirrt fordern die Neoliberalen: Sparen, sparen, sparen. Vor allem bei den Arbeitnehmern und den öffentlichen Haushalten. Wie sollen wir damit jemals aus der Krise kommen? Wir bräuchten vielmehr eine Politik, die sich von den neoliberalen Rezepten verabschiedet und den Teufelskreis der Sparpolitik durchbricht. Rutscht auch noch Europa in die Deflation, wird es - siehe Japan - schwer, sich daraus wieder zu befreien. Dann kommt der Teufelskreis erst richtig in Fahrt: Geringe Nachfrage > Warenüberhang > Preisnachlässe > Kaufzurückhaltung (in Erwartung weiter sinkender Preise) > schrumpfende Umsätze und Gewinne > sinkende Investitionen (wegen fehlender Gewinnerwartungen) > drastische Kostenreduzierungen (Entlassung von Arbeitnehmern) > höhere Arbeitslosigkeit > geringere Nachfrage.

Aber keine Angst, die Ökonomen können hinterher bestimmt detailliert erläutern, weshalb sie vorher falsch lagen. Dass man sie dafür auch noch loben wird, ist keineswegs auszuschließen. Schuld sind natürlich, wie immer, die anderen.

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[1] Süddeutsche vom 09.12.2014
[2] Süddeutsche vom 08.12.2014