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04. Juni 2016, von Michael Schöfer
Erst einmal abwarten


Mutmaßliche IS-Terroristen hätten einen Anschlag in Düsseldorf geplant, liest man derzeit in der Presse. Drei Verdächtige wurden festgenommen, sie hätten in der Düsseldorfer Altstadt Sprengstoffgürtel zur Explosion bringen und mit Sturmgewehren um sich schießen wollen. Zur Terrorzelle sollen insgesamt zehn Attentäter gehören. Im baden-württembergischen Leimen, wo einer der Verdächtigen in einer Flüchtlingsunterkunft lebte, reagieren viele Bürger "geschockt und ratlos". "Leimen sucht nach Antworten", titelt die Lokalpresse. [1] Auch das "Rheinneckarblog", das sonst die etablierten Medien gerne für deren angebliche Missachtung journalistischer Standards rügt, hält sich diesbezüglich keineswegs zurück: "Die Terroristen sind unter uns. Jetzt ist auch bei uns vor Ort Realität - unter den Flüchtlingen sind nicht nur solche, die Hilfe suchen, sondern gefährliche Attentäter, die möglichst viele Menschen umbringen sowie Angst und Schrecken verbreiten wollen." [2] Gleichlautend die Schlagzeilen der überregionalen Presse.

Doch mit voreiligen Schlüssen sollte man sich zurückhalten. Es gab zwar Hinweise, dass die Verdächtigen zu Mitgliedern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Verbindung stehen, bei den Durchsuchungen wurden freilich keinerlei Beweise wie Waffen oder Sprengstoffgürtel gefunden. Konkrete Vorbereitungen gab es nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft ebenso wenig. Bei der Observation der drei Verdächtigen und dem Abhören ihrer Telefone habe sich ebenfalls nichts Belastendes ergeben. Nach allem, was die Öffentlichkeit bislang weiß, beruhen die Vorwürfe im Wesentlichen auf den Aussagen des syrischen Staatsangehörigen Saleh A., der sich in Frankreich der Polizei gestellt hat. Wie glaubwürdig Saleh A. ist, bleibt abzuwarten, das herauszufinden ist jetzt die Aufgabe der ermittelnden Behörden.

Man darf die Terrorgefahr weder verharmlosen noch soll man sie dramatisieren. Bedauerlicherweise gibt es neben fundierten Hinweisen zahlreiche haltlose Gerüchte. Ob an den Meldungen etwas dran ist, stellt sich oft erst im Nachhinein heraus. Anfang des Jahres wurden beispielsweise vier Algerier festgenommen, die Anschläge in Berlin geplant hätten. Auch damals hat man schnell von einer "Terrorzelle" gesprochen, obgleich bei den Durchsuchungen ebenfalls weder Waffen noch Sprengstoffe gefunden wurden. [3] Dennoch lauteten damals die Schlagzeilen in der Presse ähnlich wie heute. "Hauptstadt im Fadenkreuz", etwa. [4] Was war tatsächlich Realität? Was war aufgebauscht?

"Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen sagte (…) im ZDF-Morgenmagazin: 'Es gab konkrete Hinweise darauf, dass es Leute in Deutschland gibt, die Planungen verfolgen, Anschläge zu begehen. Aber es gab keinen konkreten Hinweis auf eine konkrete bevorstehende terroristische Straftat.' Das bestätigte die Berliner Polizei (...). Berlins Innensenator Frank Henkel warnte im rbb vor Hysterie: 'Ein bisschen Zurückhaltung in der Frage wäre angebracht.' Er dementierte noch einmal, dass der Alexanderplatz oder der Checkpoint Charlie mögliche Anschlagsziele gewesen sein sollen: 'Das ist etwas, was wir überhaupt nicht bestätigen können.' 'Zum Glück gibt es wohl offensichtlich keine Hinweise auf konkrete Gefahren in unserer Stadt', sagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD)." [5]

Anfang April wurden in München zwei Männer festgenommen, sie sollen mit Mitgliedern des Islamischen Staates Kontakt gehabt haben. Später hieß es dann, der Terrorverdacht habe sich "in Luft aufgelöst", die Verdächtigen wurden wieder freigelassen. "Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte (…) zum Vorgehen der bayerischen Behörden: 'Ich sage Ihnen nur, dass es richtig ist - und so verhalten sich die Sicherheitsbehörden: Im Zweifel eher früh zugreifen als zu spät.'" [6] Wachsamkeit ist zweifellos geboten, aber in der Öffentlichkeit hat sich mittlerweile durch die Presseberichterstattung der Glaube verfestigt, wir seien von Terroristen geradezu umzingelt.

Doch Hysterie nützt keinem - höchstens den Terroristen. Bevor man die Bevölkerung mit Schreckensmeldungen von geplanten Anschlägen à la Paris beunruhigt, sollte man erst einmal die Ermittlungsergebnisse abwarten. Es könnte ja sein, dass sich diese in puncto Düsseldorf ebenfalls in Luft auflösen, falls sich Saleh A. als Sprücheklopfer entpuppt. In der Presse sind leider viel zu selten vorsichtige Formulierungen zu finden, oft scheinen die Tatsachen schon vor den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden festzustehen. In den elektronischen Medien begegnen uns etliche "Terrorexperten", die genau besehen auch nicht allzu viel Erhellendes beizutragen haben. Da werden Anhaltspunkte als Fakten präsentiert, obwohl noch gar nicht feststeht, was an ihnen letztlich dran ist. Und gerne verkaufen sie uns dabei lediglich Binsenweisheiten, wie zum Beispiel: "Wir sind keine Insel der Glückseligen. Auch uns kann es jederzeit treffen." [7] Brauche ich dazu wirklich einen "Terrorexperten"?

Ich würde mir eine zurückhaltendere Berichterstattung wünschen - eine, die sich hauptsächlich an den Fakten orientiert. Sondermeldungen und Brennpunkte geben nämlich meist nur das wieder, was zum jeweiligen Zeitpunkt allgemein bekannt ist, und das ist nicht selten herzlich wenig. Deshalb stochert man dort häufig im Nebel herum. Als im Mai ein Airbus der EgyptAir über dem Mittelmeer abstürzte, titelte das österreichische Boulevardblatt "Kronenzeitung": "EgyptAir-Absturz - In Zeiten wie diesen ist niemand mehr sicher." [8] Das sollte offenbar einen Anschlag suggerieren, obgleich es weiter unten in dem Artikel korrekterweise hieß, die Ursache des Absturzes sei noch unklar. Die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags sei groß, schrieb auch "Die Welt". Schlagzeile: "Der Absturz - Lehrstück über Terror und Realpolitik." Im Studio von N24 verkündete ein "Luftfahrtexperte", eine Maschine stürze sehr selten unvermittelt aus ihrer Reiseflughöhe ab, das weise auf einen Anschlag hin. [9] Zuletzt verdichteten sich allerdings die Hinweise auf einen technischen Defekt, weil das Flugzeug kurz vor dem Absturz automatische Warnsignale über Rauch im Bereich des Cockpits sendete. Da die Flugschreiber mittlerweile geortet wurden, sind wir demnächst, was die wahre Absturzursache angeht, bestimmt schlauer. Möglicherweise erklären uns dann die gleichen Experten, warum sie genau das von Anfang an vermutet haben.

Terrorismus soll primär Angst verbreiten und die Menschen verunsichern. Wenn die Medien mit ihrem Alarmismus mitspielen, machen sie sich ungewollt zu deren Helfershelfern. Ich rate dazu, in solchen Fällen erst einmal abzuwarten und nüchtern die Fakten abzuwägen anstatt wild herumzuspekulieren.


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[1] Mannheimer Morgen vom 04.06.2016
[2] Rheinneckarblog vom 02.06.2016,
Pressekodex: "Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen."
[3] n-tv vom 04.02.2016
[4] Der Tagesspiegel vom 04.02.2016
[5] Rundfunk Berlin-Brandenburg vom 05.02.2016
[6] FAZ.Net vom 08.04.2016
[7] SVZ.de vom 02.06.2016
[8] Kronenzeitung vom 20.05.2016
[9] Die Welt-Online vom 19.05.2016