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08. Oktober 2017, von Michael Schöfer
Die 10 Punkte-Verirrung der CSU


Wer glaubt, der AfD sei es gelungen, die Union mit 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl völlig aus dem Tritt zu bringen, irrt. Die Union, insbesondere die CSU, hat sich nämlich selbst aus dem Tritt gebracht. Wer monatelang die Kanzlerin kritisiert, dem nimmt man kurz vor der Wahl die zur Schau gestellte Harmonie zwischen den Schwesterparteien einfach nicht mehr ab. Horst Seehofer hat sich heillos vertaktiert, die AfD hat es bloß dankbar zur Kenntnis genommen und ausgenutzt.

Doch die Christsozialen scheinen nichts dazuzulernen, denn nun wollen sie wieder deutlich nach rechts rücken. Ihr 10 Punkte-Plan [1] ist allerdings nur ein Beleg der eigenen Orientierungslosigkeit. Die Union, heißt es darin, müsse "ihren angestammten Platz Mitte-Rechts ausfüllen", das sei sie dem Land schuldig. Einerseits behauptet die CSU, die Menschen wollten "eine bürgerlich-konservative Politik" und es gebe "keine linke Mehrheit mehr". Konservativ ist angeblich wieder sexy. Andererseits beklagt sie: "Wenn bis auf die CSU alle etablierten Parteien links der Mitte wahrgenommen werden, dann ist das ein Problem." Ja was denn nun? Wenn, wie von der CSU unterstellt, alle anderen etablierten Parteien als links der Mitte wahrgenommen werden, dann muss man konstatieren, dass es in der Bevölkerung sehr wohl eine Mehrheit links der Mitte gibt. Und zwar eine recht große, denn bei der Bundestagswahl bekamen die von der CSU so verorteten Parteien 76,1 Prozent (CDU 26,8 %, SPD 20,5 %, FDP 10,7 %, Die Linke 9,2 %, Grüne 8,9 %). Einmal unterstellt, die Analyse der CSU sei richtig, dann wollen die Menschen offenbar alles, bloß keine "bürgerlich-konservative Politik". Aus der Sicht der Christsozialen haben ja drei Viertel der Wählerinnen und Wähler vermeintlich links der Mitte stehende Parteien gewählt. Die CSU widerspricht sich also selbst.

Ihre Analyse ist freilich falsch, denn weder die FDP noch die CDU befinden sich links der Mitte. Die CDU hat lediglich auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, während sich die CSU damit noch immer schwertut. Wo man andere im politischen Spektrum einordnet, ist ohnehin primär eine Frage des eigenen Standorts, mithin höchst subjektiv. Zugegeben, die CSU steht rechts von der Bundes-CDU, aber wird das vom Wähler auch honoriert? Offenkundig nicht. Die erkennbar bürgerlich-konservative CSU hat bei der Bundestagswahl in Bayern 10,5 Prozent verloren, die mindestens genauso bürgerlich-konservative CDU in Sachsen sogar 15,8 Prozent. Vergleichsweise liberale CDU-Landesverbände, wie etwa der in Nordrhein-Westfalen (-7,1 %), haben dagegen unterdurchschnittlich verloren. Ebenso die CDU in Schleswig-Holstein (-5,2 %) und im Saarland (-5,4 %). Anders ausgedrückt: Die CSU unter Horst Seehofer und die CDU unter Stanislaw Tillich sind für die Wählerinnen und Wähler unattraktiver als die CDU unter Armin Laschet, Daniel Günther und Annegret Kramp-Karrenbauer. Wer die Union deutlich nach rechts schieben will, zieht aus dem Wahlergebnis die falschen Schlüsse. Ganz abgesehen von der Frage, mit wem er dann überhaupt koalieren kann.

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung weist darauf hin, dass die AfD im sozial prekären Milieu am meisten hinzugewonnen hat, spiegelbildlich ist in keinem anderen Milieu der Erosionsprozess der etablierten Parteien so weit fortgeschritten. Die Modernisierungsbefürworter haben die Interessen der Modernisierungsverlierer viel zu lange ignoriert. Das spricht nicht gegen die Modernisierung als solche, doch man muss dabei möglichst alle mitnehmen und soll am besten keinen zurücklassen. Das sagt auch die CSU: "Bürgerliche Politik ist, sich gerade auch für die Anliegen der kleinen Leute einzuspreizen: bei Rente und Pflege ebenso wie bei Mieten und Jobs." (Nr. 5 des 10-Punkte-Plans) Doch was hat sie diesbezüglich konkret anzubieten?

Stichwort Mieten: "In einer wirtschaftlich sehr prosperierenden Zeit ist es halt auch so, dass beispielsweise die Mieten ansteigen, die Wohnungssituation in den Ballungsräumen angespannt ist." Originalton CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. [2] Die CSU sei eben eine "Partei des Eigentums", bekundete er lapidar. Das haben ihr bei der Bundestagswahl all jene, denen das für die Eigentumsbildung notwendige Kleingeld fehlt und die demzufolge unter den horrenden Mieten leiden, bestimmt herzlich gedankt.

Stichwort Lohngerechtigkeit: "Ein gesetzlicher Mindestlohn wird Arbeitsplätze in unserem Land kaputt machen und sehr wohl auch Wettbewerbsnachteile mit sich bringen." Originalton Max Straubinger (CSU) im Jahr 2010, damals immerhin Vorsitzender des Landesgruppenarbeitskreises Arbeit und Soziales. [3] "Einen undifferenzierten flächendeckenden Mindestlohn halte ich für falsch", bekräftigte Hans-Peter Friedrich (CSU) Ende 2011 die Position seiner Partei. [4] Anhebung des dank der SPD schließlich doch beschlossenen Mindestlohns im Jahr 2017? Damit werde die Wirtschaft nur unnötig belastet, behauptete CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. Seine Haltung zur SPD-Forderung nach Wiedereinführung der paritätischen Beitragsfinanzierung der Krankenversicherung? "Die SPD sollte aufhören, sich immer neue soziale Vergünstigungen auszudenken." [5] Bravo! Aber sich jetzt angesichts des Wahldebakels als Anwalt der "kleinen Leute" aufspielen. Hält die CSU die Menschen eigentlich für blöd?

Stichwort Rente: "CDU und CSU bekräftigen die Rentenreform der Großen Koalition von 2007. Sie hat die Weichen für die Entwicklung des Renteneintrittsalter bis 67, des Rentenniveaus und der Rentenbeiträge bis zum Jahr 2030 umfassend und erfolgreich gestellt. Damit wurde auch die Generationengerechtigkeit verlässlich gesichert." Das Rentenniveau habe sich "besser entwickelt, als in den Prognosen vorhergesagt". (Auszug aus dem gemeinsamen Wahlprogramm von CDU und CSU) Na, dann ist ja alles paletti. Oder nicht? Antworten auf die Frage, wie es bei der Rente weitergeht? Fehlanzeige! In Bezug auf die "Weiterentwicklung der Rente nach 2030" soll eine Rentenkommission "bis Ende 2019 Vorschläge erarbeiten". Zu einer der drängendsten sozialpolitischen Fragen verweigerte die Union kurzerhand die Auskunft. Das hat die, die sich vor der Altersarmut fürchten, vermutlich ungemein beruhigt.

Glaubt die CSU wirklich, stattdessen mit Worthülsen wie "Leitkultur", "Patriotismus" und "Liebe zur Heimat" punkten zu können? Spätestens dann, wenn sie Auskunft darüber geben soll, was etwa die vielbeschworene Leitkultur genau sei, flüchtet sie sich in Gemeinplätze. Nein, mit rückwärtsgewandtem Geschwätz wird sie die AfD-Wähler kaum zurückholen. Oder glaubt Seehofer tatsächlich, den Rechtspopulisten die von der Mietpreisexplosion betroffenen Gering- und Durchschnittsverdiener mit Phrasen wie der von der "Liebe zur Heimat" wieder abspenstig machen zu können? Was wir vielmehr brauchen, sind Änderungen in der Sozialpolitik. Wenn die AfD im sozial prekären Milieu am meisten hinzugewonnen hat, bekämpft man sie am besten damit, Menschen aus dem sozial prekären Milieu herauszuholen. Nicht mit Patriotismus, sondern mit Zukunftsperspektiven. Echten Zukunftsperspektiven, keine nationalistisch aufgeblasene Selbstbeweihräucherungsrhetorik. Wenn die Mittelschicht aber weiterhin erodiert und sich folglich viele auch künftig vor dem sozialen Abstieg fürchten, ist die faktische Ignoranz dieser Probleme der beste Nährboden für die AfD. Der 10 Punkte-Plan der CSU ist hierbei allerdings wenig hilfreich.

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[1] Die Welt-Online vom 08. Oktober 2017
[2] BR vom 01.07.2017
[3] CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rede zu einem gesetzlichen Mindestlohn vom 23.04.2010
[4] Frankfurter Rundschau vom 06.11.2011
[5] Tagesspiegel vom 03.01.2016