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08. November 2017, von Michael Schöfer
Wir wählen Zwerge, dabei bräuchten wir Riesen!


Glaubt Politikern kein Wort, denn sie sagen ständig die Unwahrheit. Beispiel Klimaziele: "Wir in Deutschland haben den Ehrgeiz, die [CO2-]Emissionen bereits bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken", verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Petersberger Klimadialog im Jahr 2015 und ließ sich dort als Klimakanzlerin feiern. "Wir müssen in diesem Jahrhundert, im 21. Jahrhundert, die Dekarbonisierung schaffen." [1] Dekarbonisierung bedeutet die Abkehr von der Nutzung kohlenstoffhaltiger Energieträger, also null Komma null CO2-Emissionen. Doch die selbstgesetzten Klimaziele sind bereits jetzt nicht mehr zu erreichen, gleichwohl bekennen sich bei den Sondierungsgesprächen der Jamaika-Koalition alle dazu. Zumindest die Union und die FDP wollen uns jedoch nicht verraten, wie sie das konkret umzusetzen gedenken. Außer wolkigen Absichtserklärungen mit wenig Substanz hat man dazu bislang nichts vernommen.

Die Verkehrspolitik ist dafür ein Paradebeispiel. Die EU-Kommission legte im Jahr 2011 ein Weißbuch für den europäischen Verkehrsraum vor, darin war als Fahrplan zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem u.a. vorgesehen: "Halbierung der Nutzung 'mit konventionellem Kraftstoff betriebener PKW' im Stadtverkehr bis 2030; vollständiger Verzicht auf solche Fahrzeuge in Städten bis 2050." [2]

Heute hat die EU-Kommission das Paket zu Mobilität und Klimawandel angenommen, die ursprünglich vorgesehenen Ziele darin aber deutlich aufgeweicht. Nun sollen neue Pkw und neue Lieferwagen im Jahr 2030 bei den durchschnittlichen CO2-Emissionen 30 Prozent unter den Werten des Jahres 2021 liegen. Von einer Quote für CO2-freie Pkw, von der noch vor kurzem die Rede war, ist die Kommission wieder abgerückt. Offenkundig haben die Lobbyisten der Autoindustrie, allen voran VDA-Präsident Matthias Wissmann (CDU), ganze Arbeit geleistet. Nicht zum ersten Mal übrigens. Hinter den Kulissen sollen sich u.a. Sigmar Gabriel (SPD) und Günther Oettinger (CDU) für die Interessen der Automobilindustrie stark gemacht haben. Das bedeutet zugleich, sie haben gegen Umweltinteressen gehandelt.

Die hehren Klimaziele sind alles bloß Lippenbekenntnisse, im Zweifelsfall gehen nämlich die Interessen der Wirtschaft vor. Und diesbezüglich sind sich beide sogenannten Volksparteien einig. Nicht verbal, aber faktisch. Doch das ist selbst unter ökonomischen Gesichtspunkten extrem kurzsichtig, weil die exportorientierte Automobilindustrie ihre marktbeherrschende Stellung nur halten kann, wenn sie emissionsarme bzw. emissionsfreie Fahrzeuge anbieten kann. China, Deutschlands größter Automobil-Absatzmarkt, wird schon ab 2019 eine Quote für Elektroautos einführen.

Von umweltpolitischen Gesichtspunkten ganz zu schweigen. Die Menschheit steht an einer Zeitenwende, allerdings kommt diese schleichend daher. Möglicherweise erreichen wir bald Kipppunkte, bei denen die Situation außer Kontrolle gerät. Das Abschmelzen der Gebirgsgletscher und des Festlandeises auf Grönland hat ja bereits begonnen. Zudem tauen die Permafrostböden auf und lassen dabei Treibhausgase entweichen, was wiederum die Erderwärmung verstärkt und einen positiven Rückkopplungseffekt zur Folge hat. Die positive Rückkopplung ist ein sich selbst verstärkender Vorgang, der von außen kaum zu beeinflussen ist. Sollte es tatsächlich dazu kommen, wäre die Erderwärmung auch mit einer drastischen Reduzierung der von Menschen emittierten Treibhausgase nicht mehr aufzuhalten. Die Menschheit könnte dem Ganzen bloß noch als hilfloser Beobachter beiwohnen. Ein anderer Kipppunkt ist die Versauerung der Meere durch die vermehrte Aufnahme von CO2 aus der Atmosphäre. Das könnte für die gesamte ozeanische Nahrungskette schwere Konsequenzen haben. Zu nennen wäre auch das rasante Artensterben auf den Kontinenten, zuletzt durch den drastischen Rückgang der Insektenpopulationen wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Ausgestorbene Arten sind unwiederbringlich verloren. Und mit ihnen das, was sie für die Natur leisten. Stichwort: Bestäubung. Späte Bestätigung für Rachel Carsons Buch "Der stumme Frühling"?

Das - siehe oben - verantwortungslose Handeln der Politiker ist in meinen Augen absolut unverständlich. Aber offenbar ist inzwischen auch der weitsichtige Staatsmann ausgestorben. Wir wählen Zwerge, dabei bräuchten wir Riesen!

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[1] Bundesregierung, Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum VI. Petersberger Klimadialog am 19. Mai 2015
[2] EU-Kommission, WEISSBUCH Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem, Seite 10