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07. Januar 2018, von Michael Schöfer
Staatsräson und Völkerrecht


Dass sich die Deutschen angesichts der monströsen Verbrechen während der Nazi-Diktatur dem Staat Israel besonders verpflichtet fühlen, ist ebenso verständlich wie notwendig. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am 18. März 2008 in Jerusalem in ihrer Rede vor der Knesset die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärt: "Gerade an dieser Stelle sage ich ausdrücklich: Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben." [1] Doch was das konkret bedeutet, lässt die Bundesregierung bis heute offen.

Der Duden definiert Staatsräson wie folgt: "Grundsatz, nach dem der Staat einen Anspruch darauf hat, seine Interessen unter Umständen auch unter Verletzung der Rechte des Einzelnen durchzusetzen, wenn dies im Sinne des Staatswohls für unbedingt notwendig erachtet wird." Das ist in Bezug auf Israel nicht unbedingt erhellend. Formulieren wir es so: Die Sicherheit und damit einhergehend das Existenzrecht Israels ist für Deutschland ein vorrangiges Staatsziel. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat sich 2012 vorsichtig von der "Merkel-Doktrin" distanziert. Die Sicherheit und das Existenzrecht Israels seien für die deutsche Politik "bestimmend", sagte er am Rande eines Israel-Besuchs. Das Wort "Staatsräson" könne die Bundeskanzlerin bei der politischen Umsetzung noch in "enorme Schwierigkeiten" bringen. [2] Dennoch stand auch Gauck fest zur Freundschaft und Solidarität mit Israel.

Die Nagelprobe, was Deutschland tun muss, falls die Existenz Israels tatsächlich einmal auf dem Spiel stehen sollte, steht noch aus. Und die Politik scheint nach wie vor unsicher zu sein, was die Merkel-Doktrin genau beinhaltet, beispielsweise bei einem denkbaren israelisch-iranischen Krieg. An dieser Stelle sei erwähnt, dass man feinsinnig zwischen zu verurteilendem Antisemitismus und der durchaus berechtigten Kritik am Handeln des Staates Israel unterscheiden muss. Etwas, das nicht jedem leichtfällt und daher oft unzulässigerweise miteinander vermengt wird. Im ersten Fall geht es generell gegen Juden, im zweiten Fall bloß um die Politik eines Landes. Die UN-Vollversammlung hat kürzlich mit einer deutlichen Mehrheit von 128 der 193 Länder beschlossen, die US-Regierung solle die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt zurücknehmen. Auch Deutschland hat dem zugestimmt. Neun Länder, darunter die USA und Israel, stimmten dagegen, 35 enthielten sich. Das deutsche Abstimmungsverhalten war konsequent, denn die Anerkennung der Sicherheit und des Existenzrechts Israels als deutsche Staatsräson darf nicht dazu führen, das Völkerrecht zu missachten und als nachrangig zu behandeln. Die seit 1967 anhaltende Besetzung Ost-Jerusalems und des Westjordanlandes ist und bleibt illegal. Daran kann selbst Donald Trump nichts ändern.

Doch es droht weiteres Ungemach: "Das Zentralkomitee der rechtsorientierten israelischen Regierungspartei Likud hat eine Annektierung großer Teile des Westjordanlands gefordert." [3] Auch die Partei Jüdisches Heim von Bildungsminister Naftali Bennett fordert die sofortige Annektierung jener Gebiete im Westjordanland, die Israel bereits kontrolliert. Die Präsidentschaft Donald Trumps schaffe hierfür eine günstige Gelegenheit, die man nicht verstreichen lassen dürfe, heißt es. Die Annexion wird mit dem Verweis auf 3000 Jahre alte biblische Ansprüche gerechtfertigt. Das Westjordanland (Judäa und Samaria) ist ursprünglich in der Tat das eigentliche Kernland des damaligen Israel gewesen. Es ist freilich absurd, die wechselvolle Geschichte zwischen damals und heute völlig zu ignorieren und dadurch den Palästinensern ihr historisch ebenso begründbares Heimatrecht abzusprechen. Würde man die israelische Sichtweise zum allgemeingültigen Prinzip erheben, müssten beispielsweise die USA ihr gesamtes Staatsgebiet vollständig an die Indianer zurückgeben. Von der Rückgabe der übrigen Teile des amerikanischen Kontinents oder Australiens an die Nachfahren der dortigen Ureinwohner ganz zu schweigen. Vermutlich wird Donald Trump daran noch nicht einmal im Traum denken.

Faktisch verabschiedet sich Israel damit von der Zwei-Staaten-Lösung. Doch was ist mit den Rechten der Palästinenser? Am Ende haben sie dann weder einen eigenen Staat noch besitzen sie in Israel volle staatsbürgerliche Rechte. Das CIA World Factbook weist mit Stand Juli 2016 im Westjordanland rund 2,7 Mio. Palästinenser aus. Sollen sie dauerhaft als Menschen zweiter Klasse unter israelischer Besatzung leben? Eingesperrt und drangsaliert in einem Staat, der ihnen mit der Bibel in der Hand die Heimat geraubt hat? Das ist wohl genauso inakzeptabel wie das Existenzrecht Israels zur Disposition zu stellen. Der Grat, auf dem sich die deutsche Diplomatie bewegt, wir sukzessive schmaler. Und es ist beileibe kein Antisemitismus, von Israel die Beachtung des Völkerrechts und die Einhaltung der Menschenrechte zu verlangen.

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[1] Bundesregierung, Bulletin 26-1
[2] Die Welt-Online vom 29.05.2012
[3] Die Welt-Online vom 01.01.2018