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19. Januar 2018, von Michael Schöfer
Keine Angst vor Neuwahlen? Von wegen!


56 Prozent der Bundesbürger halten Martin Schulz einer repräsentativen Umfrage zufolge für unglaubwürdig. Diese schlechte Bewertung fällt einem nicht in den Schoß, man muss sie sich verdienen. Und Martin Schulz hat sie sich redlich verdient.

"Von der SPD kommen nach dem Scheitern einer Jamaika-Koalition klare Ansagen: SPD-Chef Martin Schulz setzt auf Neuwahlen. Einen Eintritt der SPD in eine große Koalition lehnt er ebenso ab wie eine Minderheitsregierung von Angela Merkel." Nein, nein, verehrte Leserinnen und Leser, das ist keine Falschmeldung (neudeutsch Fake-News), ich zitiere lediglich einen zwei Monate alten Artikel des "Vorwärts", dem Parteiblatt der SPD.

"Sollte Angela Merkel gehofft haben, die SPD werde ihr aus der Patsche helfen, nachdem die Kanzlerin die Jamaika-Verhandlungen vor die Wand gefahren hat, gab es am Montag eine schlechte Nachricht für sie: SPD-Chef Martin Schulz erteilte einer Neuauflage der großen Koalition eine klare Absage. Im Willy-Brandt-Haus verwies er auf den einstimmigen Beschluss des SPD-Parteivorstandes, nach dem die Sozialdemokraten 'für den Eintritt in eine große Koalition nicht zur Verfügung stehen'." Die SPD habe keine Angst vor Neuwahlen, so Schulz weiter. "Wir halten sie auch für richtig". Neuwahlen seien "der richtige Weg". [1]

Wenn die SPD wenigstens den Versuch machen würde, die peinliche Situation, in die sie sich durch eigenes Unvermögen hineinmanövriert hat, etwas abzuschwächen, indem sie Artikel mit veralteten Positionen heimlich, still und leise löscht. Doch noch nicht einmal das bekommt sie auf die Reihe. Martin Schulz hat damals mächtig die Backen aufgeblasen, heute müssen wir allerdings feststellen, dass er in Wahrheit die Hosen gestrichen voll hat.

"SPD-Chef Martin Schulz warnt seine Partei davor, Verhandlungen mit der Union über eine Große Koalition abzulehnen. 'Dann würde es zu Neuwahlen kommen, und zwar ziemlich rasch', sagte Schulz dem SPIEGEL. Auch die SPD müsse dann mit einem schlechteren Ergebnis rechnen. 'Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft.'" [2] Sind Neuwahlen plötzlich doch nicht "der richtige Weg"?

Manche Großkopfeten haben freilich noch immer nicht gemerkt, dass die Parteipropaganda längst eine andere Richtung eingeschlagen hat. So versucht der nordrhein-westfälische SPD-Landeschef Michael Groschek den Bürgern unbeirrt weiszumachen, die SPD würde Neuwahlen überhaupt nicht fürchten. "Wir haben keine Angst vor Neuwahlen, wir streben sie aber auch nicht an", behauptet er steif und fest in einem Interview mit der Kölnischen Rundschau. [3] Reden die nicht miteinander? Schicken die sich keine E-Mails? Normalerweise spricht man sich doch ab. Ein beispielloses Tohuwabohu.

Es ist offenkundig: Die SPD zittert wie Espenlaub. Und aus Angst vor dem eigenen Tod flüchtet das Parteiestablishment kurzerhand in die GroKo. Wobei Letztere wiederum die Beerdigung bloß hinauszögert. Für den Weg in die Opposition bräuchte man ein bisschen Mut - mithin genau das, was die SPD nicht hat. Doch das Rumgeeiere geht inzwischen selbst wohlmeinenden Wählerinnen und Wählern ordentlich auf den Keks. Wären die Sozialdemokraten standhaft bei dem geblieben, was Martin Schulz am Wahlabend als Marschrichtung verkündete, sähe das Ganze vielleicht anders aus. Die SPD hat einen bemerkenswerten Dilettantismus an den Tag gelegt und sich willfährig den Schwarzen Peter unterjubeln lassen. Die Konservativen wissen, auf die SPD ist eben Verlass. Von daher wäre es wirklich eine faustdicke Überraschung, würde der unmittelbar bevorstehende Parteitag die GroKo ablehnen. Ob das Wahlvolk die Entscheidung am Ende auch goutiert, ist zu bezweifeln.

Im September 2016 schrieb ich mit Blick auf die SPD: "25,7 Prozent", das war das Ergebnis der Bundestagswahl 2013, "sind offenbar noch zu viel." [4] Ein Jahr danach, im September 2017, landete sie schließlich bei bescheidenen 20,5 Prozent. Anscheinend ist aber auch das noch zu viel, anders kann ich mir das abstruse Verhalten der einstigen Volkspartei nicht erklären. Es macht auf mich weniger den Eindruck eines verzweifelten Überlebenskampfes; langsam, aber sicher darf man den Sozialdemokraten eine Neigung zum vorsätzlichen Suizid attestieren. Wenn die SPD auf der Grundlage der Sondierungsergebnisse mit der Union koaliert, wird sie auch noch den letzten Rest ihrer verbliebenen Anhänger enttäuschen, weil viele Probleme derselben weiterhin ungelöst bleiben. Die überstürzte Flucht in die GroKo nützt der SPD also gar nichts.

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[1] Vorwärts vom 20.11.2017
[2] Spiegel-Online vom 19.01.2018
[3] Kölnische Rundschau vom 18.01.2018
[4] siehe 25,7 Prozent sind offenbar noch zu viel vom 20.09.2016