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20. Januar 2018, von Michael Schöfer
Wird die SPD wirklich noch gebraucht?


"Delegieren" kommt vom lateinischen "delegare" und hat die Bedeutung von "jemandem etwas überweisen bzw. jemanden beauftragen, Rechte oder Aufgaben abtreten, Aufgaben auf einen anderen übertragen". Ein "Delegierter" ist somit ein "beauftragter Akteur", er soll im Interesse von anderen handeln. [1] Parteien bewältigen die Entscheidungsfindung meist mithilfe eines Delegiertensystems, d.h. bestimmte Mitglieder werden auf Parteitage entsandt und vertreten dort die Basis. Das Problem ist, dass die Delegierten nicht an das Votum der Basis gebunden sind. So kommen mitunter Entscheidungen zustande, in denen sich die Auftraggeber nicht mehr wiederfinden, sie fühlen sich dann schlecht vertreten. Es gebe hierzulande eben kein imperatives Mandat, bei dem Delegierte an inhaltliche Vorgaben der Vertretenen gebunden sind, verteidigen die Befürworter das System.

Alles schön und gut, doch nach welchen Kriterien entscheiden Delegierte? Oft nach dem, was sie persönlich für richtig erachten. Man unterstellt ihnen gerne, einen besseren Überblick zu haben. Das mag bei komplexen Sachfragen zutreffen, wo es auf schwer verständliche Details ankommt. Doch bei der wichtigen Frage, ob die SPD mit der Union abermals eine Große Koalition bilden soll, ist das nicht der Fall. Das Delegiertensystem hat dann unter Umständen gravierende Nachteile und die können leicht zu tiefgreifenden Zerwürfnissen führen.

Ein Beispiel: Die Basis der Mannheimer SPD hat sich in einer Mitgliederversammlung mit 83 zu 64 Stimmen gegen die GroKo ausgesprochen. 56,5 Prozent waren gegen eine Neuauflage von Schwarz-Rot. Die Mannheimer SPD schickt vier Delegierte zum morgigen SPD-Parteitag in Bonn. Dem Eindruck der Rhein-Neckar-Zeitung zufolge, die die Mitgliederversammlung beobachtet hat, werden aber wohl alle vier Delegierte für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union stimmen. [2] Das wären somit 100 Prozent für die Neuauflage von Schwarz-Rot. Größer könnte die Diskrepanz zwischen Vertretern und Vertretenen kaum sein.

Wenn die negativen Auswirkungen des Delegiertensystems so krass sind, verliert es seine Legitimität. Sollte sich der Eindruck der Rhein-Neckar-Zeitung bestätigen, werden die Mannheimer GroKo-Gegner in Bonn überhaupt nicht repräsentiert sein, weil die von der Basis Entsandten ihren Auftrag ignorieren und wahrscheinlich nach eigenem Gusto entscheiden. Es gibt ja kein imperatives Mandat. Die gelegentlich Kindersprache verwendende Andrea Nahles würde das vermutlich mit einem infantilen "Bätschi" kommentieren, einem laut Duden "Ausruf zum Ausdruck des schadenfrohen Spotts". Ob das allerdings für den Zusammenhalt und die Wahlchancen der SPD gut ist, kann man mit Fug und Recht bezweifeln.

Denn was passiert, wenn die Mitglieder und Wähler daraufhin ebenfalls "Bätschi" sagen und sich davonmachen? Dann stehen die Sozis insgesamt als die Gelackmeierten da. Die SPD ist ohnehin bekannt dafür, relevante Teile ihrer Mitglieder und Wählerschaft zu verprellen, weshalb sie beispielsweise seit 1998 42,8 Prozent ihrer Mitglieder (von 775.036 auf 443.152) und 52,7 Prozent ihrer Wähler (von 20,2 Mio. auf 9,5 Mio.) verloren hat.
[3] Im Wesentlichen durch Gerhard Schröders Agenda-Politik. Davon hat vor allem Die Linke profitiert. Zuvor, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, stiftete der damalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt durch seine ignorante Umwelt- und Sicherheitspolitik ("wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen") geradewegs zur Gründung der Grünen an. Abspaltungen und Wählerverschiebungen, von denen sich die SPD bis heute nicht erholt hat. Und nun steht die brisante Frage auf der Tagesordnung, ob sie Angela Merkel (CDU) noch einmal die Kanzlermehrheit verschafft.

Nichts symbolisiert den Niedergang der ehedem stolzen Volkspartei so sehr wie die Übersicht über die Wahlkreisergebnisse bei den Bundestagswahlen 1998 und 2017. Aus einer überwiegend roten wurde eine mehrheitlich schwarze Republik. Tiefschwarz sogar. Koalitionen gegen die Union zu bilden, ist unmöglich geworden. Rechnerisch müssten dazu schon SPD, Grüne, Linke und FDP ein Bündnis schmieden. Oder SPD, AfD und FDP gemeinsam mit den Linken oder den Grünen koalieren. Politisch ist das völlig undenkbar.

 
Wahlkreisergebnisse 1998 [4]           und           Wahlkreisergebnisse 2017 [5]

"Die SPD wird noch gebraucht", liest man häufig in den Gazetten. Provokante Frage: Wozu? Wenn Funktionäre und Abgeordnete den Auftrag der Mitglieder und Wähler missachten und Letztere fortwährend vor den Kopf stoßen, wird sie im Grunde überhaupt nicht mehr gebraucht. Höchstens noch als Mehrheitsbeschafferin für Angela Merkel. Doch reicht das auf Dauer aus? Antwort: Ein eindeutiges Nein! Eine SPD ohne sozialdemokratische Politik ist lediglich eine Zweckgemeinschaft, der es primär um die Besetzung lukrativer Pöstchen geht.

Jakob Augstein hat im "Freitag" lakonisch darauf hingewiesen: "Wenn die deutsche Sozialdemokratie den Weg in die Bedeutungslosigkeit gehen will, dann werden wir auch das überleben. (…) Wenn die deutsche Sozialdemokratie sich ihren europäischen Schwestern anschließen und den Weg in die Selbstvernichtung antreten möchte, dann werden wir auch das aushalten. Und für die linken, sozialen, liberalen Inhalte neue Gefäße finden." [6] Bei der Parlamentswahl in den Niederlanden erreichte die Partij van de Arbeid 2017 gerade einmal 5,70 Prozent, die PASOK in Griechenland landete 2015 bei 4,33 Prozent und die Parti socialiste in Frankreich erzielte 2017 im ersten Wahlgang zur Nationalversammlung ganze 7,44 Prozent. Und? Werden sie vermisst? Ich glaube kaum.

Vielleicht lohnt ein Blick nach Großbritannien, wo ein im Gegensatz zu Martin Schulz äußerst glaubwürdiger Jeremy Corbyn die Labour Party mit traditionellen sozialdemokratischen Konzepten aus der Versenkung geholt hat. Auch dort haben die Abgeordneten und hohen Funktionäre zunächst Widerstand geleistet, ihn nach der Wahl zum Parteivorsitzenden sogar beinahe gestürzt, aber Corbyns Erfolg an der Wahlurne (2017 satte 40 % der Stimmen bei einem Plus von 9,5 %) hat ihn bestätigt. Er hält auf der Bühne des Glastonbury-Musikfestivals eine politische Rede und wird von Zehntausenden bejubelt. Kann man sich das von Martin Schulz vorstellen? Längst kräht kein Hahn mehr nach Tony Blairs New Labour. Corbyn begeistert, zugegebenermaßen auch deshalb, weil sein Praxistest als Regierungschef noch aussteht.

Die deutsche SPD registriert es mit Schaudern, weil sie inzwischen die neoliberalen Rezepte verinnerlicht hat. Danach muss die Demokratie, ganz im Sinne Merkels, marktkonform bleiben. Der Unterschied zwischen Corbyn und Schulz ist: Der Brite (Slogan: For the Many, Not the Few, deutsch: Für die Vielen, nicht für die Wenigen) tritt seit Jahrzehnten durchgängig für klassische linke Politik ein; der Deutsche hingegen, früher ein bekennender Agenda-Anhänger, ist nie über das Schlagwort Gerechtigkeit hinausgekommen. Martin Schulz hat die Anfangserfolge in den Umfragen verspielt, weil er es versäumt hat, seinen Wahlslogan mit Substanz zu untermauern. Mittlerweile hält ihn die Mehrheit der Bürger für unglaubwürdig.

Wird die SPD wirklich noch gebraucht? In Bonn könnte sie es beweisen. Doch sie traut sich nicht einmal, der Union die Pistole auf die Brust zu setzen. Motto: "Entweder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder kein Koalitionsvertrag! Entweder eine massive Förderung des sozialen Wohnungsbaus oder kein Koalitionsvertrag!" Stattdessen glauben SPD-Landesverbände, in letzter Minute mit der Angleichung der Honorarordnungen für gesetzlich und privat Krankenversicherte punkten zu können. Sorry, aber das interessiert die meisten Bürger herzlich wenig. Die ungleiche Entwicklung bei der Einkommensverteilung und die horrenden Mietpreissteigerungen in den Ballungsräumen dagegen sehr. Spätestens der Mitgliederentscheid nach den Koalitionsverhandlungen muss eine Klärung herbeiführen. Fehlt der SPD der Mut zu einem konsequenten Neuanfang, kann sie sich in anderen Ländern ansehen, was ihr blüht.

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[1] Wiktionary, delegieren
[2] Rhein-Neckar-Zeitung vom 20.01.2018
[3] Mitglieder SPD 1990: Statista, Anzahl der Parteimitglieder der SPD von 1990 bis 2016
Mitglieder der SPD 2017: Reuters vom 18.01.2018
[4] Wikipedia, Bundestagswahl 1998 Wahlkreisergebnisse, CC BY-SA 4.0-Lizenz, Urheber: Furfur, größere Darstellung der Hauptstadt Berlin durch den Autor entfernt
[5] Wikipedia, Bundestagswahl 2017 Erststimmenergebnisse, CC BY-SA 4.0-Lizenz, Urheber: Furfur, größere Darstellung einzelner Wahlkreise durch den Autor entfernt
[6] Der Freitag 3/2018