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13. Februar 2018, von Michael Schöfer
Die Osmanen haben sich auch total überschätzt


Nehmen wir einmal an, ich wäre mit dem Einsatz der Bundeswehr gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) überhaupt nicht einverstanden und würde stattdessen - horribile dictu - für Friedensverhandlungen mit der barbarischen Terrorgruppe plädieren. Ungefähr so, wie manch renommierter Politiker schon einmal mit den Taliban verhandeln wollte. Und falls ich den Bundeswehreinsatz, warum auch immer, als völkerrechtswidrig bezeichnen würde, bekäme ich da Probleme? Würde ich meinen Job verlieren oder sogar verhaftet werden? Müsste ich mit einer Anklage und mit einer Gefängnisstrafe rechnen? Nein, nichts von alledem. Und warum? Weil ich mich auf die von Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit berufen könnte.

Würde ich jedoch in der Türkei leben und mich gegen den völkerrechtswidrigen Einsatz der türkischen Armee in Nordsyrien aussprechen, wäre das anders. Wahrscheinlich würde die Justiz wegen "Terrorpropaganda" gegen mich ermitteln. Ganz so, wie es der erst vor kurzem als Parteivorsitzende der pro-kurdischen HDP gewählten Politikerin Pervin Buldan ergangen ist. Ihr "Verbrechen": Sie kritisierte in einer Rede auf dem HDP-Parteitag die Militäroperation gegen die kurdische YPG-Miliz und rief zum Frieden auf. Außerdem wies sie darauf hin, dass bei dem Einsatz Zivilisten sterben. "Buldan regte zudem an, die Friedensverhandlungen mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wieder aufzunehmen." [1] Die frühere HDP-Vorsitzende Serpil Kemalbay ist wegen ihres Aufrufs zum Protest gegen die türkische Militäroffensive festgenommen worden. Vorwurf: "Anstachelung zum Konflikt." [2]

Das kommt einer orwellschen Sprachmanipulation schon recht nahe: Wer für Frieden eintritt und Verhandlungen fordert, macht Propaganda für Terroristen. Wer zum Protest gegen einen Militäreinsatz aufruft, stachelt zum Konflikt an. Schuldig macht sich folglich nicht der, der Gewalt ausübt, sondern der, der die Anwendung von Gewalt kritisiert. "Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke." (George Orwell, 1984)

Dabei sagt die türkische Verfassung etwas anderes, darin heißt es nämlich in Artikel 25: "Jedermann genießt Meinungs- und Überzeugungsfreiheit. Niemand darf, aus welchem Grund und zu welchem Zweck auch immer, zur Äußerung seiner Meinungen und Überzeugungen gezwungen werden; er darf wegen seiner Meinungen und Überzeugungen nicht gerügt oder einem Schuldvorwurf ausgesetzt werden." Und Artikel 26 garantiert: "Jedermann hat das Recht, seine Meinungen und Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf anderem Wege allein oder gemeinschaftlich zu äußern und zu verbreiten." [3] Klingt gut, nicht wahr? Doch die Realität der Türkei unter Erdogan sieht anders aus.

Wes Geistes Kind der türkische Präsident ist, zeigt seine Warnung an die USA. Er drohte den US-Soldaten eine "osmanische Ohrfeige" an, "sollten sie einem möglichen türkischen Angriff auf Kurden im nordsyrischen Manbidsch im Weg stehen". [4] Es wird immer verrückter. Und wer, wie bis vor kurzem Deutschland, der Türkei mit Waffenlieferungen unter die Arme greift, hat offenbar die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt. Appeasement ist im Umgang mit Autokraten nachweislich der falsche Weg. Erdogan wiederum wird hoffentlich bekannt sein, warum das Osmanische Reich untergegangen ist. Die Osmanen haben sich nämlich auch total überschätzt.

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[1] tagesschau.de vom 12.02.2018
[2] tagesschau.de vom 13.02.2018
[3] tuerkei-recht.de, Die Verfassung der Republik Türkei, Stand Juni 2017, Übersetzung von Prof. Dr. Christian Rumpf, PDF-Datei mit 1,1 MB
[4] Deutsche Welle vom 13.02.2018