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| Impressum 07. August 2024, von Michael Schöfer Das Nachplappern von Regierungspropaganda reicht nicht Wenn die großen Zeitungen des Landes im Wesentlichen bloß das Narrativ der Regierenden nachplappern, ist bestimmt etwas faul. Auf dem Nato-Gipfel Anfang Juli haben die Regierungen der Vereinigten Staaten und Deutschlands verkündet, ab 2026 in Deutschland mit der Stationierung von Marschflugkörpern und Mittelstreckenraketen zu beginnen. Beide sollen angeblich nur konventionelle Gefechtsköpfe tragen, sie können aber auch nuklear bestückt werden. Die Stationierungsentscheidung kam für die Öffentlichkeit völlig überraschend, darüber wurde vorher nicht einmal im Deutschen Bundestag debattiert. Die gemeinsame Erklärung der Regierungen ist trotz ihrer weitreichenden Wirkung recht knapp gehalten, es sind lediglich vier magere Sätze.
Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026,
als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter
Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer
Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen. Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlicht die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung. [1] Es drängt sich der wohl nicht unberechtigte Eindruck auf, hier soll etwas möglichst ohne groß Staub aufzuwirbeln umgesetzt werden. Offenbar wollen die Regierenden eine Nachrüstungsdebatte 2.0 möglichst vermeiden. Dabei rechtfertigen sie sich unisono mit dem ziemlich schlichten Argument, man müsse der größeren Bedrohung durch Putin etwas entgegensetzen und ihn abschrecken. Das Abschreckungskonzept klingt oft einleuchtend und einfach, ist aber durchaus diffizil. Nun kann spätestens seit Beginn des Ukrainekriegs kein vernünftiger Mensch mehr bestreiten, dass Russland aggressiver und zu einer Gefahr für ganz Europa geworden ist, dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob uns die geplanten Waffensysteme wirklich nutzen oder nicht vielmehr sogar schaden. Doch diese Diskussion kommt nur zäh in Gang, der angeblich kritische Qualitätsjournalismus ist diesbezüglich eine herbe Enttäuschung. Es blieb dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion vorbehalten, als erstem ranghohen Politiker Bedenken zu äußern. "Die Raketen haben eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue technologische Fähigkeiten. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich", warnte Rolf Mützenich. [2] Mützenich befasst sich schon seit Jahrzehnten mit Fragen der Abschreckung, er promovierte 1991 mit der Dissertation "Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik - historische Erfahrungen, Rahmenbedingungen, Perspektiven". Der Fraktionsvorsitzende besitzt also in dieser Sachfrage nicht nur anerkanntermaßen Expertise, seine Bedenken haben obendrein Substanz. Man darf die destabilisierende Wirkung dieser Waffen in der Tat keinesfalls außer Acht lassen, denn das ist bei der Frage der Stationierung der wichtigste Gesichtspunkt. Insbesondere die Hyperschallwaffen sind von ihrer Charakteristik her Erstschlagswaffen. Nach Angaben des US-Congressional Research Service soll der Hyperschall-Gleitkörper manövrierfähig sein und eine Geschwindigkeit von bis zu 13.000 miles per hour (20.921 km/h) erreichen. [3] Von Deutschland bis Moskau bedeutet das eine Flugzeit von gerade einmal sechs Minuten. 1983 entging die Welt nur knapp einem Atomkrieg, als das sowjetische Frühwarnsystem fälschlicherweise einen Angriff durch amerikanische Interkontinentalraketen meldete. Es war nur der Besonnenheit von Stanislaw Petrow, dem diensthabenden Offizier der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte, zu verdanken, dass der Untergang der Menschheit gerade noch einmal abgewendet wurde. Aber es war verdammt knapp: "Ich hatte fünf, höchstens zehn Minuten, um zu entscheiden, ob der Alarm echt ist", sagte Petrow später. [4] Trotzdem Zeit genug, um den Fehlalarm zu erkennen. Zeit, die jedoch bei in Europa stationierten Hyperschallwaffen vermutlich nicht mehr zur Verfügung steht. Was passiert, wenn die Russen nach dem Motto "use it or lose it" handeln? D.h. die eigenen Raketen losschicken, sobald sie sich angegriffen fühlen, weil sie deren Verlust befürchten. Ob das tatsächlich der Fall ist, ist dann irrelevant. Die destabilisierende Wirkung der Mittelstreckenwaffen ist offenkundig. Wäre der Aufbau einer ausgeklügelten, möglichst lückenlosen europäischen Flugabwehr nicht besser? Diese Frage wird in der Öffentlichkeit jedoch kaum diskutiert, die großen Zeitungen plappern nämlich meist nur die Verlautbarungen der Regierung nach. Rolf Mützenich wird mit seinen Bedenken sogar lächerlich gemacht. Die Süddeutsche Zeitung befasste sich erstmals am 12. Juli 2024 in einem längeren Artikel mit der geplanten Raketenstationierung. Titel: "Die Lücke in der Abschreckung schließen." Das Blatt ging darin nur kurz auf die damit verbundenen Probleme ein: "Generell gelten Mittelstreckenraketen als besonders destabilisierend, weil ihre kurzen Flugzeiten eine Reaktion binnen weniger Minuten erforderlich machen: Wenn die Seite, die sich als Ziel eines nuklearen Angriffs sieht, verhindern will, dass ihr Atomarsenal durch einen gegnerischen Erstschlag zerstört wird, muss sie ihre Raketen vorher starten. Das birgt das Risiko von Fehleinschätzungen, wie sich im Kalten Krieg gezeigt hat." [5] Ausführlichere Kritik gab es dann dort keine mehr, das Abschreckungskonzept hat die SZ nicht weiter hinterfragt. Mützenichs Einwände wurden trotz der Passage des Artikels in einem späteren Kommentar schroff zurückgewiesen: "Auch bei viel gutem Willen gibt es Gründe für die Auffassung, Rolf Mützenich habe die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nicht wirklich begriffen." [6] Der kritische Journalismus gibt also sich mit dem lapidaren Hinweis zufrieden, Mützenich begreife es einfach nicht. Warum die Presse einen immer schwereren Stand hat, verwundert angesichts dessen kaum. Außerdem es gibt es Zweifel an der korrekten Darstellung der Umstände, die zu dieser Entscheidung führten: "Die strategische Wende kommt aus dem Nichts", will uns die Süddeutsche weismachen. "Der Schritt kommt für die Öffentlichkeit zwar überraschend, ist aber das Ergebnis eines jahrelangen Umdenkens und schließlich vertraulicher Gespräche mit den USA, die im Spätsommer vor einem Jahr begonnen haben - auf deutscher Seite angeführt vom außenpolitischen Kanzlerberater Jens Plötner und auf amerikanischer von Joe Bidens nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan. In einem Gespräch über die veränderte strategische Lage in einem von einem kriegerischen Russland bedrohten Europa fühlten die Deutschen vor: Ob sich die Amerikaner die Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland vorstellen könnten? Das stieß auf Wohlwollen." [7] Vom Qualitätsjournalismus erwarte ich, dass er seine Leserschaft korrekt informiert und das Narrativ der Regierenden kritisch hinterfragt. Recherchieren die nicht mehr? Es war nämlich, soweit ich weiß, der viel kleineren taz vorbehalten, erstmals Zweifel an der regierungsamtlichen Darstellung zu wecken. Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a.D., hat dort in einem Gastkommentar darauf hingewiesen: "Washington hat diese Raketenstationierung in Deutschland bereits seit Jahren geplant und 2021 eine Taskforce für Führung und Einsatz dieser Systeme in Wiesbaden aktiviert." [8] Und im noch viel kleineren nd war zu lesen: "Dies bestätigt auch ein Informationspapier des Recherchedienstes des US-Kongresses vom 10. Juli. Darin heißt es, bereits am 13. April 2021 habe die US-Administration beschlossen, in Wiesbaden Raketen zu stationieren. Also lange vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine." [9] Und tatsächlich, in der Veröffentlichung des Congressional Research Service steht wörtlich: "Am 13. April 2021 gab die Armee bekannt, ihre 2. MDTF in Deutschland zu stationieren." [10] MDTF (Multi-Domain Task Force) sind neustrukturierte Stabseinheiten der USA, denen die Mittelstreckenwaffen zugeordnet sein werden. Anders als es die Regierenden suggerieren fiel der Stationierungsbeschluss offenbar schon 2021, zumindest hat ihn die US-Army zu diesem Zeitpunkt angekündigt. Die Initiative ging anscheinend auch nicht von Deutschland aus, denn die Frage, ob sich die Amerikaner die Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland vorstellen könnten, war im Spätsommer 2023 längst beantwortet. Und entgegen der Darstellung der Bundesregierung war es keine Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine, weil der Krieg erst nach dem Stationierungsbeschluss begann. Von alldem erfuhren die Leserinnen und Leser der Süddeutschen nichts. Es blieb dem Leserbrief (!) von Dr. Pascal van Overloop überlassen, den wahren Sachverhalt zu beleuchten. [11] Das ist für "Deutschlands Qualitätstageszeitung Nr. 1" (Eigenwerbung) im Grunde ein Armutszeugnis. "Die Süddeutsche Zeitung legt Wert auf kritische Redakteure und kritische Leser", sagt das Blatt von sich selbst. Gehört Hintergrundrecherche nicht mehr zu den Aufgaben des Qualitätsjournalismus? Jedenfalls erwarte ich, dass die Süddeutsche die regierungsamtlichen Verlautbarungen kritisch hinterfragt und nicht nur bereitwillig nachplappert. Und natürlich, dass sie ihre Leserinnen und Leser umfassend informiert. Anfang der achtziger Jahre veröffentlichte die altehrwürdige Frankfurter Rundschau viele Informationen über die Hintergründe der damals umstrittenen Nato-Nachrüstung. In dem linksliberalen Blatt setzten sich Journalisten wie Anton Andreas Guha ("Der Tod in der Grauzone. Ist Europa noch zu verteidigen?") wirklich kritisch mit den Absichten der Bundesregierung auseinander. Bedauerlicherweise ist die heutige Rundschau nach etlichen Besitzerwechseln nicht mehr mit der damaligen vergleichbar, sie ist bloß noch ein Schatten ihrer selbst. Wie dem auch sei, wer die Süddeutsche unserer Tage mit der früheren Frankfurter Rundschau vergleicht, ist von "Deutschlands Qualitätstageszeitung Nr. 1" bestimmt enttäuscht. Wenn ich Regierungspropaganda lesen will, brauche ich kein teures Zeitungsabo, denn dafür reichen die Pressemeldungen der Bundesregierung völlig aus. Kritischer Journalismus sollte über den Tellerrand hinausblicken, andernfalls verliert er seine Daseinsberechtigung. ----------
[1]
Bundesregierung, PDF-Datei mit 94 KB
[2]
tagesschau.de vom 21.07.2024
[3]
Congressional Research Service vom
04.12.2023, The U.S. Army’s Long-Range Hypersonic Weapon
(LRHW), PDF-Datei mit 524 KB
[4]
Deutschlandfunk vom 26.09.2008
[5]
Süddeutsche vom 12.07.2024, Printausgabe Seite 6
[6]
Süddeutsche vom 27.07.2024, Printausgabe Seite 4
[7]
Süddeutsche vom 27.07.2024, Printausgabe Seite 6,
Hervorhebung von mir
[8]
taz vom 16.07.2024
[9]
nd vom 02.08.2024
[10]
Congressional Research Service vom
10.07.2024, The Army’s Multi-Domain Task Force (MDTF),
PDF-Datei mit 527 KB
[11] Süddeutsche vom 05.08.2024
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