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11. Juni 2025, von Michael Schöfer
Was ist bloß aus unserer Debattenkultur geworden?


Wie endet der Ukraine-Krieg? Nun, da gibt es mehrere denkbare Möglichkeiten:

• Putin stirbt und seine Nachfolger beenden die Konfrontation mit dem Westen

• Russland setzt sich militärisch durch und erobert die Ukraine

• Die Ukraine erringt militärische Erfolge und vertreibt die Russen aus den besetzten
  Gebieten

• Beide Konfliktparteien sind erschöpft und willigen in einen Waffenstillstand ein, der
  (siehe Zypern) lange Zeit den Status quo zementiert

• Durch eine diplomatische Initiative wird ein wie auch immer gearteter Kompromiss
  erzielt, der durch Sicherheitsgarantien abgesichert wird

Jeder kann sich heraussuchen, was er bevorzugt: Putins Fenstersturz oder Donald Trump als Friedensengel. Es kann aber natürlich genauso gut sein, dass der Ukraine-Krieg noch jahrelang so weitergeht, weil bei einem militärischen Patt keine Seite aufgeben muss und sich keine entscheidend durchsetzt. Letztlich ist alles möglich, sogar das Übergreifen des Konflikts auf andere Länder. Doch was ist am wahrscheinlichsten? Darüber rätseln wohl die meisten. Wir sollten lediglich darauf achten, Wunschdenken (das, was wir gerne hätten) vom Realismus (das, was tatsächlich erreichbar ist) zu trennen.

Putins Angriff auf die Ukraine hat enorm viel verändert, u.a. verstärkte Rüstungsbemühungen des Westens ausgelöst, denn Europa ist offenbar nur bedingt verteidigungsfähig. Andererseits hat es die Großmacht Russland in mehr als drei Jahren nicht geschafft, die nominell viel schwächere Ukraine zu unterwerfen. Das militärische Versagen ist eklatant.

Beim NATO-Gipfel wird man vermutlich, falls US-Präsident Donald Trump mitspielt, ein neues NATO-Ziel für Militärausgaben vereinbaren: Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen es sein (3,5 % für Verteidigung und 1,5 % für Investitionen in die militärisch nutzbare Infrastruktur). Die Summen sind gewaltig: Deutschland erwirtschaftete 2024 ein Bruttoinlandsprodukt von 4,3 Billionen Euro, somit müssten wir pro Jahr mindestens 215,3 Mrd. Euro ausgeben (150,7 Mrd. € für Verteidigung + 64,6 Mrd. € für Infrastruktur). Zum Vergleich: 2024 gab Deutschland 71,75 Mrd. Euro fürs Militär aus (51,95 Mrd. € aus dem Verteidigungshaushalt und rund 19,8 Mrd. € aus dem Sondervermögen Bundeswehr), das waren 1,7 Prozent des BIP. [1] (Hinweis: In den Medien kursieren andere Summen und abweichende Prozentsätze, ich beschränke mich hier auf die offiziellen Daten, die mir vorliegen.) Eine Verdreifachung der Militärausgaben fällt selbst einer so reichen Nation wie Deutschland unheimlich schwer.

Nun haben SPD-Mitglieder das Manifest "Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung" vorgelegt, Erstunterzeichner sind u.a. Ralf Stegner, Rolf Mützenich und der ehemalige SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans. [2] "Von einer Rückkehr zu einer stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen", heißt es darin. Sie fordern, die "notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen. (…) Eine Rückkehr zu einer Politik der reinen Abschreckung ohne Rüstungskontrolle und der Hochrüstung würde Europa nicht sicherer machen. Stattdessen müssen wir wieder an einer Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit arbeiten." Bei den acht zentralen Forderungen steht "eine Intensivierung der diplomatischen Anstrengungen aller europäischen Staaten" an erster Stelle.

Das Presseecho und die Kommentare in den Diskussionsforen waren heftig und überwiegend ablehnend. Das Problem, das die Befürworter einer grundsätzlich ja nicht falschen Diplomatie-Strategie haben, ist: Wie verhandelt man mit Putin, der offenkundig gar nicht verhandeln will? Und wie hole ich ihn von seinen Maximalforderungen herunter? Selbst seine Bereitschaft zu dem von den SPD-Mitgliedern geforderten "Schweigen der Waffen" ist nicht erkennbar. Zumindest solange er sich militärisch im Vorteil wähnt. Das hat jetzt hoffentlich auch Donald Trump erkannt. Andererseits sollte man konzedieren, dass die geplanten AMERIKANISCHEN Mittelstreckenwaffen aufgrund ihrer Charakteristik tatsächlich einer eigenen militärischen Logik unterliegen. Insbesondere was die Hyperschallraketen angeht verringert sich die Vorwarnzeit fast auf null, was die Möglichkeit von Fehlern und Fehlinterpretationen auf der Gegenseite drastisch erhöht. Stanislaw Petrow lässt grüßen. Mehr Waffen bringen insofern in der Tat nicht immer ein Mehr an Sicherheit. Wenn sie destabilisierend wirken, können sie die Sicherheit sogar verringern. [3] Diesen Einwand im Manifest darf man nicht leichtfertig beiseiteschieben.

Trotz des harschen Presseechos und des absehbaren Widerstands innerhalb der SPD befinden sich die Unterzeichner durchaus im Einklang mit der Stimmung in der Bevölkerung, die ist nämlich keineswegs so eindeutig, wie es Journalisten für gewöhnlich suggerieren:

Eine YouGov-Umfrage vom Januar 2025 im Auftrag der dpa kam zu folgendem Ergebnis [4]:

30 Prozent der Befragten stehen hinter dem bisherigen Zwei-Prozent-Ziel der Nato

12 Prozent sind sogar der Meinung, Deutschland sollte weniger als
   zwei Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben

28 Prozent sind für mindestens drei Prozent

9 Prozent für mindestens vier Prozent

4 Prozent halten Militärausgaben von fünf Prozent oder mehr für angemessen

Die Skepsis gegenüber der Aufrüstung ist weit verbreitet, das Volk in dieser Hinsicht geteilter Auffassung. Gewiss, Umfragen sind volatil, das kann in einem halben Jahr schon wieder ganz anders aussehen. Allerdings scheinen die SPD-Mitglieder mit ihrem Manifest eine Strömung aufzugreifen, die hierzulande in der Debatte zuletzt etwas untergegangen ist. Das ist löblich, auch wenn man nicht allen ihren Ansichten zustimmt.

Gleichwohl gibt es Anlass zur Sorge, denn was ist bloß aus unserer Debattenkultur geworden? Ist überhaupt keine normale Debatte mehr über den richtigen politischen Kurs möglich? Es ist keineswegs verwerflich, wenn sich honorige Menschen Gedanken darüber machen, wie der Ukraine-Krieg beendet werden kann, selbst wenn sie - jedenfalls aus meiner Sicht - teilweise unplausible Argumente vorbringen. Es ist doch gut für die Demokratie, wenn kontroverse Papiere vorgelegt werden, über die man anschließend diskutieren darf. Ist nicht genau das der Sinn der Demokratie: Pluralismus und freier Meinungskampf, sprich die friedliche Auseinandersetzung um den besseren Weg? So gesehen kann ich die Aufregung nicht nachvollziehen. Warum werden Menschen, nur weil sie eine andere Meinung haben, gleich verdammt?

Und ich prophezeie: Wenn wir erst tatsächlich 5 Prozent des BIP fürs Militär ausgeben, das Geld fehlt dann logischerweise an anderer Stelle, erleben wir bestimmt noch ganz andere Diskussionen. Denn sobald der Rotstift regiert und viele liebgewonnene Errungenschaften zusammengestrichen oder eingestampft werden, fallen die Umfragen wahrscheinlich viel ablehnender aus. Je nachdem, was größer ist: Die Angst vor Putin oder der Ärger über den Verlust von sozialen Leistungen.

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[1] BMVg, Verteidigungshaushalt
[2] MANIFEST "Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung"
[3] siehe Brandgefährliche Entwicklung vom 11.07.2024
[4] Handelsblatt vom 19.01.2025