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| Archiv | Impressum 30. November 2025, von Michael Schöfer Pazifismus ist gegen Diktatoren wirkungslos Es ist echt ein Wahnsinn: 2,718 Billionen US-Dollar wurden weltweit allein im Jahr 2024 fürs Militär ausgegeben. [1] 2.718.000.000.000 Dollar, das sind nach dem aktuellen Kurs 2.345.000.000.000 Euro. Wie viele Wohnungen hätte man dafür bauen können? Wie viele Krankenhäuser, Kitas, Kindergärten, Alten- und Pflegeheime? Oder Windkraft- und Photovoltaikanlagen? Wie viele Menschen hätte man damit aus der Armut holen können? Doch die Menschheit vergeudet das Geld für Panzer, Kampfflugzeuge, Drohnen und Flugzeugträger. Und das bloß, weil ein paar durchgeknallte Staatschefs ihren menschenverachtenden Aggressionen freien Lauf lassen, während sich andere dagegen so gut es eben geht wappnen wollen. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf (Thomas Hobbes), aber verständlicherweise hat keiner Lust darauf, das Schaf zu spielen, das gefressen wird. Ergo wird gerüstet, insbesondere seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Das mag man beklagen, aber so ist die bittere Realität. Dieser im Grunde groteske Sachverhalt empört auch die deutsche Schriftstellerin und Journalistin Mithu Sanyal, die sich vor kurzem im britischen Guardian über die "kognitive Kriegsführung" und die Aufrüstung echauffierte: "Deutschland hat seine Bürger dazu erzogen, den Krieg zu hassen. Jetzt will es, dass wir uns zum Militärdienst melden - aber wir sagen Nein. Der Krieg in der Ukraine ist ein Verbrechen. Doch die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten sich für den Frieden einsetzen, anstatt junge Menschen auf den Kampf und den Tod vorzubereiten." [2] Sie schreibt weiter: "Sich für Pazifismus einzusetzen bedeutet nicht, die Ukraine im Stich zu lassen. Ich stimme zu, dass der Krieg in der Ukraine ein Verbrechen ist - warum also setzen wir nicht alles daran, ihn zu beenden? Warum sprechen unsere Politiker nicht ständig von Entspannung? Genau deshalb lehne ich die Wiedereinführung der Wehrpflicht ab: Ein Land, das nicht alles unternimmt, um Kriege zu verhindern, hat das Recht verwirkt, seine Bürger zur Teilnahme daran aufzufordern." Man kann diesen Standpunkt verstehen, er hat allerdings einen Haken: Mithu Sanyal verschweigt, wie man den Krieg in der Ukraine beenden kann. Vermutlich, weil sie es nicht weiß. Ebenso wenig wie alle anderen. Daran scheitern nämlich die meisten, die mit Nachdruck endlich Frieden verlangen: an der Praxis. Zur Erinnerung: Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg hat Wladimir Putin begonnen, nicht die europäischen Staats- und Regierungschefs. Und nicht einmal der obskure 28 Punkte umfassende Friedensplan der US-Regierung [3], der angeblich aus russischer Feder stammen soll und faktisch einer Kapitulation der Ukraine gleichkäme, hat bislang zum Frieden geführt. Genauso wenig wie andere diplomatische Bemühungen. Russland stimmt nicht einmal einem Waffenstillstand zu. Putin sagt ständig "njet", er will alles oder der Krieg geht weiter. [4] Frieden ist mehr als bloß die Abwesenheit von militärischer Gewalt. "Auch die russische Besatzung ist ein Krieg, nur das Leid wird dabei unsichtbar. Menschen im Ausland können sich oft nicht vorstellen, dass es sich nicht nur um einen Flaggenwechsel handelt. Entführungen, Folter, Vergewaltigungen, die Zerstörung der Identität, die Zwangsadoption ukrainischer Kinder, Infiltrationslager und Massengräber - das ist die Realität der Besatzung", sagt die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk. "Die Ukrainer wünschen sich Frieden, lehnen jedoch eine russische Besatzung ab. Für uns ist Freiheit nicht nur Selbstverwirklichung, sondern bedeutet Überleben. Diejenigen, die der Ukraine raten, ihren Widerstand aufzugeben, würden selbst niemals unter russischer Besatzung leben wollen. Sie würden nicht um fünf Uhr morgens aufwachen wollen, weil die Geheimdienste zu ihnen kommen. Sie wollen nicht erleben, wie ihr Haus auf den Kopf gestellt wird, ihre Frau vor ihren Augen vergewaltigt werden, wie ihr Mann zum Folterverhör abgeführt wird und ihre Kinder in ein Militärlager geschickt werden, um sie zu Putins zukünftigen Soldaten auszubilden." [5] Würde Mithu Sanyal unter russischer Vorherrschaft leben wollen? Vermutlich nicht. Doch welche Antwort hat sie für die Ukrainer, die notgedrungen zwischen der Erfüllung von Putins Maximalforderungen und dem Kampf für ihre Freiheit wählen müssen? Das erfahren wir nicht, darüber schweigt sich Sanyal aus. Sie ist gegen die Wehrpflicht in Deutschland, aber mit welchen Mitteln würde sie Putin entgegentreten, falls der nach einem Sieg in der Ukraine Lust auf weitere Eroberungen bekommt? Mit Pazifismus? Mit Worten? Viel Spaß! Diese Haltung ist unehrlich, weil sie keine Lösung anbietet. Wer ostentativ Frieden fordert, muss auch über die Friedensbedingungen reden. Und das mit aller Klarheit über die Konsequenzen für die Menschen, die dann unter russischer Besatzung leben müssen. Es ist wohlfeil, wenn "Kriegsstrategen" vom heimischen Sofa aus sagen, wie man militärisch handeln müsste. Aber es ist genauso wohlfeil, wenn "Hobbydiplomaten" zu Hause in der warmen Stube sitzen und einen Pazifismus predigen, dessen Folgen andere auszubaden haben. Es stimmt, was Sanyal schreibt, dass auch der Briand-Kellogg-Pakt den Zweiten Weltkrieg nicht verhinderte. Doch wer konnte 1928 ahnen, welche Bestie 1933 in Deutschland an die Macht kommt? Die NSDAP bekam damals bei der Reichstagswahl gerade einmal 2,6 Prozent der Stimmen. Was Sanyal allerdings übergeht: Die Zugeständnisse der Appeasement-Politik des britischen Premierministers Neville Chamberlain ("peace for our time") haben Hitler bekanntlich nicht besänftigt, sondern zu weiteren Eroberungen angestachelt. Das Münchner Abkommen von 1938 (Hitler: "Es ist die letzte territoriale Forderung, die ich in Europa zu stellen habe…") war daher kontraproduktiv. Im Vorkriegsjahr gab Nazi-Deutschland 10,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fürs Militär aus, die Briten dagegen nur 4 Prozent. [6] Es hätte den Verlauf des Zweiten Weltkriegs sicherlich positiv beeinflusst, wäre Großbritannien zu dessen Beginn militärisch besser vorbereitet gewesen. Hätte Winston Churchill Sanyals Rat befolgt, würde jetzt in London vielleicht die Hakenkreuzfahne wehen. Die Geschichte lehrt uns, dass man Diktatoren nicht mit Pazifismus entgegentreten kann. Das schließt Diplomatie keineswegs aus, aber wenn sie versagt, sollte man andere Mittel zur Verfügung haben. ----------
[1]
SIPRI, Trends bei den weltweiten
Militärausgaben, 2024
[2]
Guardian vom 28.11.2025
[3]
tagesschau.de vom 21.11.2025
[4]
tagesschau.de vom 27.11.2025
[5] taz vom 28.11.2025
[6] Our World in Data, Military spending
as a share of GDP
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