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                 01. Januar 2007, von
                      Michael Schöfer 
                     Das Experiment 
                  
                  "Vorhersagen sind außerordentlich schwer, vor allem solche
                  über die Zukunft", schrieb uns einst der dänische Physiker
                  Niels Bohr hinter die Ohren. Dies gilt heutzutage insbesondere
                  für den Bereich der Wirtschaft. Die Experten sind sich
                  momentan nämlich nur in einem einig - in ihrer Uneinigkeit.
                  Die einen sind angesichts des überraschend guten
                  Konjunkturverlaufs euphorischer denn je. Der Aufschwung werde
                  nicht nur im nächsten Jahr, sondern mindestens bis 2008
                  andauern, behaupten sie wagemutig. Die anderen sind wesentlich
                  skeptischer und halten die ab Januar 2007 in Kraft tretende
                  Mehrwertsteuererhöhung für extrem konjunkturschädlich. Wem
                  soll man nun glauben? Falsche Prognosen haben uns bekanntlich
                  schon häufiger in die Irre geführt. [1] 
                 
                  Nach Ludwig Erhard, Mitbegründer des Konzepts der sozialen
                  Marktwirtschaft und von 1963 bis 1966 Bundeskanzler, beruhen
                  50 Prozent der Wirtschaft auf Psychologie. Ginge es allein
                  danach, wäre der Aufschwung sicherlich noch auf Jahre hinaus
                  gesichert. So war beispielsweise der ifo-Geschäftsklimaindex
                  im Dezember 2006 mit 108,7 Punkten höher als je zuvor seit der
                  Wiedervereinigung. Zur Erinnerung: Seinerzeit wuchs unser
                  Bruttoinlandsprodukt im Zuge des Wiedervereinigungsbooms um
                  beachtliche 5,1 Prozent. Positiver könnten die Aussichten also
                  kaum sein. Wenigstens auf den ersten Blick. 
                  
                
                
                 Doch
                  Vorsicht: "O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren, der
                  immerfort in seiner Scheibe wechselt." (Shakespeare, Romeo und
                  Julia) Mit anderen Worten: Nichts ist so unbeständig wie
                  Stimmungen. Zudem geben sie lediglich Erwartungen wieder,
                  nicht unbedingt den tatsächlichen Verlauf. Überdies gibt es
                  konzeptionelle Zweifel: Folgt die Stimmung bloß der
                  Wachstumskurve oder sagt sie deren Verlauf wirklich
                  zuverlässig voraus? Egal, auch der Optimistischste wird auf
                  Dauer - Stimmung hin oder her - an harten ökonomischen Fakten
                  kaum vorbeikommen. 
                  
                  Fakten stehen für die anderen 50 Prozent der Wirtschaft.
                  Vordergründig sind sie wie in Stein gemeißelt, doch bedürfen
                  sie notwendigerweise der Interpretation. Und ich verrate Ihnen
                  kein Geheimnis, wenn ich darauf hinweise, dass man in dieser
                  Beziehung ebenfalls enorm zerstritten sein kann. Aus der Fülle
                  von statistischen Daten sucht sich jeder die für die eigene
                  Meinung passenden heraus, die weniger geeigneten werden in der
                  Regel ignoriert. Das ist menschlich. Aber genau deshalb ist es
                  so schwer, sich selbst auf der Grundlage von feststehenden
                  Fakten über die richtige Wirtschaftspolitik zu einigen. Die
                  neunköpfige Hydra ist nichts gegen das Jahrbuch des
                  Statistischen Bundesamts (Umfang 688 Seiten). Immer wenn man
                  glaubt, mit einer bestimmten Zahlenkolonne einen Kopf
                  abgeschlagen und die Sache damit klar gemacht zu haben, wächst
                  der nächste in Form einer anderen Zahlenkolonne nach und der
                  Kampf geht weiter. Das Ungeheuer ist folglich kaum zu
                  bändigen. 
                  
                  Ist der gegenwärtige Optimismus übertrieben? Ein Teil der
                  Fakten ist in der Tat erfreulich: Die Steuereinnahmen des
                  Staates steigen, die sozialversicherungspflichtig
                  Beschäftigten ebenso. Doch ist dadurch schon ein nachhaltiger
                  Aufschwung gesichert? Daran darf gezweifelt werden. Und wo
                  kommt der Aufschwung überhaupt her? Wenn man genauer hinsieht,
                  kann man zwar durchaus eine kleine Trendwende unterstellen,
                  allerdings sind wir immer noch weit vom Ausgangspunkt zu
                  Beginn der Wiedervereinigung entfernt (von den Zeiten der
                  Vollbeschäftigung ganz zu schweigen). Und damals hatten wir
                  knapp drei Millionen Arbeitslose, die Situation war mithin
                  bereits 1992 alles andere als rosig. Im November 2006 lag die
                  Zahl der Arbeitslosen um 1 Mio. bzw. 34,1 Prozent über dem
                  Jahresdurchschnitt von 1992. Die aussagekräftigeren - weil auf
                  ihnen unser Sozialsystem beruht -
                  sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten lagen im
                  September 2006 (neuere Daten liegen noch nicht vor) um 2,4
                  Mio. respektive 8,3 Prozent unter dem Stand von vor 14 Jahren.
                  Ob man somit von einer echten Trendwende sprechen kann, muss
                  sich erst noch zeigen. 
                  
                
                
                  
                    
                      | Arbeitslose in Mio. | 
                     
                    
                      | 1992 | 
                      2,979 | 
                     
                    
                      | 1993 | 
                      3,419 | 
                     
                    
                      | 1994 | 
                      3,698 | 
                     
                    
                      | 1995 | 
                      3,612 | 
                     
                    
                      | 1996 | 
                      3,965 | 
                     
                    
                      | 1997 | 
                      4,384 | 
                     
                    
                      | 1998 | 
                      4,279 | 
                     
                    
                      | 1999 | 
                      4,099 | 
                     
                    
                      | 2000 | 
                      3,889 | 
                     
                    
                      | 2001 | 
                      3,852 | 
                     
                    
                      | 2002 | 
                      4,060 | 
                     
                    
                      | 2003 | 
                      4,376 | 
                     
                    
                      | 2004 | 
                      4,381 | 
                     
                    
                      | 2005 | 
                      4,861 | 
                     
                    
                      | Jan. 2006 | 
                      5,010 | 
                     
                    
                      | Juni 2006 | 
                      4,399 | 
                     
                    
                      | Nov. 2006 | 
                      3,995 | 
                     
                    
                      | Quelle: a) 1992-2005: Statistisches
                            Taschenbuch 2006, Arbeits- und Sozialstatistik,
                            Herausgeber: Bundesministerium für Arbeit und
                            Soziales, Tabelle: 2.10 b) Jan. - Sept. 2006:
                            Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeits- und
                            Ausbildungsmarkt in Deutschland, November 2006,
                            Tabelle 8 | 
                     
                  
                 
                 
                
                
                  
                   
                  
                  
                    
                      
                        | Sozialversicherungspflichtig
                            Beschäftigte in Mio. | 
                       
                      
                        | Juni 1992 | 
                        29,325 | 
                       
                      
                        | Juni 1993 | 
                        28,596 | 
                       
                      
                        | Juni 1994 | 
                        28,238 | 
                       
                      
                        | Juni 1995 | 
                        28,118 | 
                       
                      
                        | Juni 1996 | 
                        27,739 | 
                       
                      
                        | Juni 1997 | 
                        27,280 | 
                       
                      
                        | Juni 1998 | 
                        27,208 | 
                       
                      
                        | Juni 1999 | 
                        27,483 | 
                       
                      
                        | Juni 2000 | 
                        27,826 | 
                       
                      
                        | Juni 2001 | 
                        27,817 | 
                       
                      
                        | Juni 2002 | 
                        27,571 | 
                       
                      
                        | Juni 2003 | 
                        26,955 | 
                       
                      
                        | Juni 2004 | 
                        26,524 | 
                       
                      
                        | Juni 2005 | 
                        26,178 | 
                       
                      
                        | Juni 2006 | 
                        26,343 | 
                       
                      
                        | Sept 2006 | 
                        26,883 | 
                       
                      
                        | Quelle: a) 1992-2005: Statistisches
                              Bundesamt, Statistisches Jahrbuch, Seite 88 b)
                              Juni u. Sept. 2006: Bundesagentur für Arbeit, Der
                              Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland,
                              November 2006, Tabelle 13 | 
                       
                    
                   
                   
                  
                  
                   
                    
                Die viel
                  wichtigere Frage ist, wie lange hält das Ganze an? Denn an den
                  ungünstigen Rahmenbedingungen hat sich bedauerlicherweise
                  nicht allzu viel geändert. Nach wie vor liegen zum Beispiel
                  die realen Nettoverdienste der Arbeitnehmer deutlich (6,3
                  Prozent) unter dem Stand von 1992, die Konjunktur lebt daher
                  weiterhin primär vom Erfolg auf dem Weltmarkt. [2] Der
                  neoliberalen Theorie zufolge hätten die Unternehmen die beim
                  Export erzielten Gewinne reinvestieren und dadurch
                  Arbeitsplätze aufbauen müssen, was wiederum der
                  Binnenkonjunktur zugute gekommen wäre. Doch dies hat sich
                  schon in der Vergangenheit als Wunschdenken entpuppt und mit
                  der Realität nicht viel zu tun. Warum sollte es jetzt anders
                  sein? Ob sich 2007 die - für den Binnenmarkt - ungünstigen
                  Rahmenbedingungen gravierend ändern, etwa durch höhere
                  Tarifabschlüsse, steht in den Sternen. 
                  
                
                
                  
                    
                      | Nettorealverdienste je
                          Arbeitnehmer / Jahr in € | 
                     
                    
                      | 1992 | 
                      17251 | 
                     
                    
                      | 1993 | 
                      17280 | 
                     
                    
                      | 1994 | 
                      16843 | 
                     
                    
                      | 1995 | 
                      16673 | 
                     
                    
                      | 1996 | 
                      16400 | 
                     
                    
                      | 1997 | 
                      15886 | 
                     
                    
                      | 1998 | 
                      15916 | 
                     
                    
                      | 1999 | 
                      16104 | 
                     
                    
                      | 2000 | 
                      16217 | 
                     
                    
                      | 2001 | 
                      16421 | 
                     
                    
                      | 2002 | 
                      16360 | 
                     
                    
                      | 2003 | 
                      16299 | 
                     
                    
                      | 2004 | 
                      16428 | 
                     
                    
                      | 2005 | 
                      16158 | 
                     
                    
                      | Quelle: Statistisches Taschenbuch 2006,
                            Arbeits- und Sozialstatistik, Herausgeber:
                            Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Tabelle:
                            1.15 | 
                     
                  
                 
                 
                
                
                Kein
                  Wunder, wenn der Binnenmarkt darniederliegt. Das bekommt der
                  Einzelhandel schmerzhaft zu spüren. So haben sich die
                  preisbereinigten Umsätze des Einzelhandels seit Jahren
                  ungefähr auf der gleichen Höhe eingependelt. Unter den
                  zusätzlichen Belastungen, die auf die Konsumenten in diesem
                  Jahr zukommen, hat er deshalb besonders zu leiden. 
                  
                
                
                  
                    
                      Einzelhandelsumsätze*
                          real 
                          (Index: 2003 = 100) | 
                     
                    
                      | 1994 | 
                      100,5 | 
                     
                    
                      | 1995 | 
                      101,2 | 
                     
                    
                      | 1996 | 
                      100,6 | 
                     
                    
                      | 1997 | 
                      98,9 | 
                     
                    
                      | 1998 | 
                      100,0 | 
                     
                    
                      | 1999 | 
                      100,5 | 
                     
                    
                      | 2000 | 
                      101,7 | 
                     
                    
                      | 2001 | 
                      101,9 | 
                     
                    
                      | 2002 | 
                      100,5 | 
                     
                    
                      | 2003 | 
                      100 | 
                     
                    
                      | 2004 | 
                      102,1 | 
                     
                    
                      | 2005 | 
                      103,8 | 
                     
                    
                      | 1.Vj.2006 | 
                      97,6 | 
                     
                    
                      | 2.Vj.2006 | 
                      102,8 | 
                     
                    
                      | 3.Vj.2006 | 
                      101,4 | 
                     
                    
                      | 
                         *ohne Handel mit Kraftfahrzeugen und ohne
                              Tankstellen; Reparatur von Gebrauchsgütern 
                            
                        Quelle: Sachverständigenrat zur
                              Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
                              Entwicklung, Jahresgutachten 2006/07,
                              Statistischer Anhang, Tabelle 64 (Daten vor 1994
                              nicht verfügbar) 
                       | 
                     
                  
                 
                 
                
                
                Das Jahr
                  2007 ist gewissermaßen ein volkswirtschaftliches Experiment.
                  Noch nie zuvor war die Anhebung der Mehrwertsteuer so enorm,
                  künftig sind statt 16 mit einem Schlag 19 Prozent zu
                  entrichten. Die Arbeitnehmer werden das zu spüren bekommen.
                  Gleichzeitig steigen die Beiträge zur Rentenversicherung von
                  19,5 auf 19,9 Prozent und die Krankenkassenbeiträge je nach
                  Kasse um bis zu 1,6 Prozent. Außerdem werden der
                  Sparerfreibetrag und die Pendlerpauschale gehörig
                  zusammengestrichen. Zum Ausgleich sinkt jedoch die Belastung
                  bei der Arbeitslosenversicherung, hier reduziert sich der
                  Beitragssatz von 6,5 auf 4,2 Prozent. Durch Letzteres werden
                  die Arbeitnehmer um ca. 7,5 Mrd. entlastet, freilich wird
                  allein die Belastung durch die Mehrwertsteuererhöhung auf rund
                  19,4 Mrd. Euro taxiert. Per Saldo müssen die Arbeitnehmer in
                  diesem Jahr nach Angaben des Bundesverbands der
                  Verbraucherzentralen mit einer Mehrbelastung von 23,6 Mrd.
                  Euro rechnen - und das bei sinkenden oder bestenfalls
                  stagnierenden Realeinkommen. Arbeitslose, Rentner und
                  Studenten erhalten gar keine Entlastung, sie werden
                  überproportional zur Kasse gebeten. Unberücksichtigt geblieben
                  sind in diesem Zusammenhang die weiter ansteigenden
                  Energiepreise. Alles in allem ist der Kurs Gift für die
                  Kaufkraft und demzufolge Gift für die lahmende
                  Binnenkonjunktur. 
                  
                  Schon einmal ist ein derart gewagtes Steuerreform-Experiment
                  gehörig danebengegangen. Im Jahr 2000 rühmte sich die
                  rot-grüne Bundesregierung, sie habe "die größte Steuerreform
                  der Nachkriegsgeschichte" auf den Weg gebracht. Mag sein, dass
                  sie das tatsächlich gewesen ist, jedenfalls haben sich die
                  Regierenden dabei kolossal verkalkuliert. Als die Steuerreform
                  im Jahr 2001 wirksam wurde, ging das Wirtschaftswachstum
                  prompt in die Knie. Ein fiskalpolitischer Fehler ohnegleichen,
                  mit dessen Auswirkungen wir heute noch zu kämpfen haben. 
                  
                
                
                 Was
                  schließen wir daraus? Das Experiment Mehrwertsteuererhöhung
                  kann den fragilen Aufschwung abrupt abwürgen. Die Meinungen,
                  ob es wirklich dazu kommt, gehen indes stark auseinander. Wenn
                  sich an der Lage auf dem Binnenmarkt nichts grundlegend
                  ändert, dürfte die aktuelle Belebung ein kurzes Strohfeuer
                  gewesen sein. Wie so oft in der Vergangenheit. Eine Besserung
                  auf dem Arbeitsmarkt hat nebenbei bemerkt nicht unbedingt
                  etwas mit guter Wirtschaftspolitik zu tun. In den kommenden
                  Jahren drängen wesentlich weniger Schüler auf den Arbeitsmarkt
                  - erste Auswirkungen der Demographie. 
                  
                
                
                 Dies auf
                  die Politik der Bundesregierung zurückzuführen, könnte sich
                  als trügerisch erweisen. Eventuell rühmt sich die Regierung
                  bald mit falschen Lorbeeren, gewiefte PR-Experten verkaufen
                  den Rückgang der Arbeitslosigkeit dann als Folge der
                  Regierungspolitik, obgleich er bloß auf die Änderung beim
                  demographischen Aufbau der Bevölkerung zurückzuführen ist.
                  Positive Auswirkungen, die man auf eine falsche Ursache
                  zurückführt, sind jedoch wenig hilfreich, weil sie den wahren
                  Kern verdecken. 
                  
                  ---------- 
                  
                 [1] siehe hierzu Was
                      sind Gutachten eigentlich wert? vom 08.08.2004 
                    [2] siehe hierzu Deutschland
                      abermals Exportweltmeister vom
                    02.01.2007 
                  
                
                 
                
               
             | 
             
                |